Soldaten legen Waffen nieder, Spielfiguren

„So haben wir den Dienst mit der Waffe verweigert“

Johannes Reimer über pazifistische Grundhaltungen

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat viele junge christliche Männer auf beiden Seiten der Front wieder vor die alte Frage gestellt, sollen sie der Einberufung zum Militär folgen und dann mit der Waffe in der Hand an der Front kämpfen, oder eher verweigern? In beiden Ländern gibt es zwar Gesetze, die die Verweigerung aus Glaubensgründen regeln, aber diese ist vor allem in der Ukraine aus Kriegsgründen ausgesetzt. Das zwingt Tausende junge Leute zur Flucht aus dem Land oder, wo sie doch festgesetzt werden, zur Zwangseinberufung. Die Berichte über Selbstmord der unfreiwillig Einberufene auf der ukrainischen Seite mehren sich.

Anderen gelingt die Flucht in den Westen, wo sie allerdings nicht als „ordentliche Flüchtlinge“ gelten. Auch aus Russland haben sich Massen junger potenzieller Rekruten auf die Flucht aus dem eigenen Land begeben, weil sie sich weigern die Waffe in die Hand zu nehmen. Aber die gelungene Flucht setzt gerade für die Christen die bohrende Frage, ob es recht war zu verweigern, nicht außer Kraft. Nur wenige dieser jungen Leute haben sich mit der Frage nach Krieg und Frieden und der gesellschaftlichen Pflicht der Christen auseinandergesetzt und sind leicht zu verunsichern. Dabei haben sich die Fangfragen der Kritiker pazifistischer Grundhaltung im Laufe von Jahrhunderten nicht wesentlich geändert.

Ich verweigerte zusammen mit vielen jungen Christen den Dienst mit der Waffe in der Sowjetarmee 1974.  Wenn ich heute die Fragen der entsprechenden Behörden an die Dienstverweigerer mit denen meiner sowjetischen Verfolger vergleiche, dann unterscheiden sich diese nur sehr geringfügig voneinander.

Nicht zuletzt deshalb habe ich mich entschlossen diesen Artikel zu schreiben und die Geschichte aus meiner Zeit der Verweigerung zu erzählen. Ähnlich wie heute in der Ukraine drohten uns damals hohe Strafen und wir beweinten gar den Tod mancher Brüder, wie zum Beispiel den grausamen Tod des moldawischen Christen Iwan Moissejew.

Was waren die Themen, mit denen man uns versucht hat von unserem Entschluss, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, abzubringen? Und wie haben wir darauf reagiert? Die unten aufgeführten Beispiele zeichnen diese Geschichten auf und sollen jungen Menschen helfen, ihre eigene Entscheidung zu treffen.

Du bist dem Staat verpflichtet

In vielen Ländern ist der Dienst in der Armee eine von der Verfassung des Landes vorgeschriebene Pflicht. Auch Christen leben unter dem Gesetz und dürfen sich der Einberufung durch den Staat nicht zur Wehr setzen. Zumal der Apostel Paulus die staatliche Ordnung als von Gott eingesetzt sieht und den Christen einen entsprechenden Gehorsam auferlegt (Röm. 13.1-5). Paulus schreibt hier:

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.“

„Du bist es deiner Heimat schuldig mit der Waffe in der Hand ihre Freiheit zu verteidigen“, behaupten die Vertreter des Staates. Auch mir wurde bei meiner Verweigerung vorgeworfen, meine Heimat zu verraten, wenn ich verweigere. Ich habe damals geantwortet:

„An erster Stelle und vor allem bin ich Gott, meinem Herrn, verpflichtet. Die Politik an der ich Interesse habe, ist eine Politik Jesu. Alles andere kommt später und danach. Und Jesus befielt mir meine Feinde zu lieben und nicht zu töten! Deshalb verweigere ich den Dienst mit der Waffe und biete stattdessen meine Zeit und Kraft meinem Land friedvoll zu dienen und meine Liebe zur Heimat zum Ausdruck zu bringen. In der Heiligen Schrift werden Menschen angehalten Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,29).“

Meine Sätze riefen in den Gesprächspartnern immer Wut und Ärger hervor. „An erster Stelle muss immer deine Treue zum Land kommen“, schrien sie. Gott gehört in die Kirche und nicht in die Gesellschaft. Nun, dem widersprach ich vehement.

Gott ist stärker als Waffen.

Der Staat behauptet, dass die Verteidigung des Landes vor dem Feind eine heilige Pflicht eines jeden Bürgers ist und das einzig wirksame Mittel gegen den Feind Waffen sind. Der Tod des Feindes garantiert das Leben der Freunde und Familie, sagen die Vertreter des Staates.

Das war auch die erste These, mit der man mich während meiner eigenen Verweigerung konfrontierte. Und der Geheimoffizier, der das Gespräch mit mir führte, brauchte hierfür folgendes Beispiel.

„Stellen Sie sich mal folgende Situation vor. Der Feind greift an und bedroht Ihre Freunde und Familie mit dem Tod. Und Sie könnten ihn in die Flucht schlagen. Würden Sie da nicht alles tun, um Ihre Lieben zu verteidigen. Und wäre da der Tod des Feindes nicht ein Segen für Sie und Ihre Familie?“

Ich antwortete damals wie folgt: „Ja, der Schutz meiner Familie, meiner Freunde und meiner Heimat ist mir ein großes Anliegen. Und ich würde das beste Mittel gegen den Fend einsetzen. Das sind aber weder Maschinenpistolen noch sonstige Waffen, sondern Gott und seine Heerscharen von Engeln. Ihn würde ich bitten, meine Familie zu vereidigen. Gegen Gott kann kein Feind bestehen. Also brauche ich nicht zu Waffe zu greifen, sondern ergreife das Gebet.“

„Aber das ist doch naiv, junger Mann. Übherall in der Welt wüten Kriege. Wo ist da ihr Gott?“ antwortete der Offizier sarkastisch.

„Stimmt, aber die Frage ist auch und vor allem, wo sind da die Menschen, die ihn zur Hilfe bitten. Diese greifen sofort zu Waffe und versuchen selbst zu kämpfen, statt den Allmächtigen auf den Plan zu rufen. Und Gott zwingt seine Hilfe den Menschen nicht auf. Wer sich selbst stark wähnt mit dem Schwert den Feind zu besiegen, muss sich nicht wundern, wenn er durch das gleiche Schwert sterben muss.“

Jesus, an den ich glaube, sagte einmal zu seinem Jünger Petrus, der angesichts der römischen Feinde, die Jesus verhaften wollten, sein Schwert zuckte: „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Mt. 26, 52).

Mein Gegenüber fing an laut zu lachen und gegen Gott und seine feigen und dummen Nachfolger zu lästern. Und so schlug ich ihm einen Deal vor. „Ich stelle mich ohne Waffe nächste Nacht auf die Wache und sie überfallen mich mit ihren Waffen. Ich werde Gott um seine Hilfe bitten, aber garantieren kann ich ihnen nicht, dass Er sie am Leben lässt. Also, wie wäre es? Sie fordern Gott heraus, stellen sie sich Ihm.“

„Ich glaube nicht an Gott“, antwortete der Offizier. „Na, dann haben sie ja auch nichts zu befürchten. Also wie wäre es?“

Für einen Moment schien der Offizier nachzudenken, warf mich dann aber verärgert aus seinem Büro. Nein, sein Unglaube schien bei weitem nicht auszureichen, um sich dem unbekannten Gott zu stellen.

Die laut schreien sind selten tapfere Helden.

Der sowjetische Staat tat alles, um uns Verweigerer umzustimmen. Seine Vertreter argumentierten, drohten und oft brüllten sie uns nur noch an. Aber uns wurde schnell klar, dass die am lautesten nach Waffen schreien, in der Regel am wenigsten selbst bereit sind sich dem Feind entgegenzustellen. Erst recht, wenn das die Aufgabe eigener Privilegien bedeutet.

Mein guter Freund Andrei Lavor aus Belarus, der heute in Kalifornien, USA lebt, verweigerte 1987 in der Sowjetunion den Dienst mit der Waffe. Als sein Wille zu verweigern feststand, begannen die typischen langwierigen Diskussionen und Gespräche mit den Vorgesetzten, Drohungen, Beschimpfungen und Beleidigungen. Eines Tages stellte der betroffene Offizier Andrei und seinem Freund Nikolai, der ebenfalls verweigern wollte, die Fangfrage: „Mal angenommen der Feind würde Ihre Familie gefangen nehmen und drohen sie umzubringen, wenn sie sich nicht von ihrem Glauben lossagen. Würden sie da nicht zur Gewalt greifen und versuchen ihre Familie zu befreien. Sie lieben doch ihre Familie, oder?“

„Würden wir nicht. Wir würden eher unsere Familie dem Schutz Gottes überlassen. Und wenn sie dann doch getötet werden würden, dann wissen wir sie bei Gott geborgen und freuen uns darauf sie da bei Ihm im Himmel nach unserem eigenen ableben wieder zu treffen“, antworteten die beiden mutigen Christen.

Der Offizier belegte sie nun mit den allerschlimmsten Flüchen, nannte sie feige und herzlos.

Dann fragte Andrei den Mann, ob er auch einmal eine Frage stellen dürfe. Der Mann sagte zu. Und Andrei fragte: „Sie sind doch Kommunist, oder? Und sie haben ein Parteibuch?“

Stolz nickte der Offizier und sah in Richtung des KG-Oberst, der ebenfalls im Raum anwesend war.

„Mal angenommen Ihre Familie sei von den Feinden festgenommen worden und man droht, sie umzubringen, es sei denn Sie verbrennen auf der Stelle Ihren Parteiausweis und sagen sich von der Partei los, würden Sie es tun?“ setzte der junge Christ fort und blickte unverblümt in Richtung des KGB-Beobachters. „Wäre Ihnen ihre Treue zur Partei wichtiger als die Familie? Würden Sie diese einfach sterben lassen? Dabei hätten sie ja keine Hoffnung darauf, sie je wiederzusehen. Wir sehen unsere Lieben im Himmel, sie nicht. Und das alles nur wegen einem Fetzen Papier auf dem Ihr Name und Ihre Parteizugehörigkeit verzeichnet sind:“

Für einen Augenblick stockte dem befragenden Offizier der Atem. Er fing an, laut zu schreien, beschimpfte die jungen Männer, ohne allerdings auf die gestellte Frage zu antworten. Dann warf er sie schließlich aus seinem Büro. Andrei und sein Freund verweigerten den Dienst mit der Waffe und dienen heute dem Herrn in ihren jeweiligen Gemeinden. Offensichtlich sind diejenigen die laut nach Treue dem Staat gegenüber rufen oft die größten Feiglinge.

Man kann das heute unter anderem am Verhalten mancher Ukrainer beobachten. Sie setzen sich vehement für die Verteidigung ihres Landes gegen die Russen ein, selbst aber haben sie sich ins Ausland abgesetzt. Aus der sicheren Distanz fordern sie von Anderen Treue und sogar den heldenhaften Tod. Wie feige so etwas ist, kann man sich gut ausmalen. Nein, damit verurteile ich nicht die vielen ukrainischen Flüchtlinge. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sein eigenes Leben zu schützen. Mir geht es nur um solche Männer, die groß ihr Maul aufreißen und von Anderen Hingabe fordern, selbst aber im sicheren Versteck hocken.

Bringt der Tod des Feindes Frieden?

Nur ein toter Feind ist eine Garantie für Frieden, sagen die Vertreter der militanten Antwort auf jede Aggression. Feinde verdienen den Tod. Deshalb kultiviert jede Armee der Welt einen ausgesprochenen Hass in ihren Soldaten gegenüber den Feinden.

Als ich 1974 den Dienst mit der Waffe verweigerte, da holten die KGB-Schergen mich eines Nachts in das Leninzimmer. Sie wussten, dass ich als junger Mann intensiv Sport getrieben und geboxt hatte. Also las einer der Offiziere mir den Vers aus dem Evangelium in Mt. 5,39 vor, wo Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Dann fragten sie mich, ob ich diesen „Blödsinn“ glaube. Als ich es bejahte, stellten sie einen kleinen turkmenischen Soldaten mir gegenüber und befahlen ihm mir einen Zahn herauszuschlagen, was dieser zögernd und mit großer Mühe dann auch tat. Die Prozedur wiederholte sich nun Nacht für Nacht. Ich verlor viele meiner Zähne. Jedes Mal rief man mich auf, aktiv die Aktion zu unterbinden und zurückzuschlagen. Ich tat es nicht und bat Gott stattdessen um Liebe zu meinem Feind.

Und dann, eines Nachts, drohten die Beamten mich umzubringen. Einer von ihnen baute sich mir gegenüber auf und warf seine riesige Faust in Richtung meines Gesichts. Aber kurz vor dem Gesicht, stoppte er seinen Schlag und brüllte mich an: „Warum liebst du mich?“ Er konnte mich nicht schlagen, meine Liebe zu ihm, meinen Feind, hatte seine Aggression gebrochen.

Jesus erwartet von seinen Jüngern genau diese Haltung, wenn er sagt:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ (Mt. 5,44-45).

Kinder Gottes überwinden Böses mit der Liebe zu ihren Feinden und nicht mit Hass und Totschlag der Feinde. Ich kann mir nicht vorstellen, wie liebende Menschen ihrem Feind eine Kugel verpassen. Deshalb kann ich meine christlichen Freunde in der Ukraine und Russland, wie auch in anderen Ländern der Welt, nur ermutigen, statt Waffen Liebe gegen die Feinde einzusetzen. Nichts vermag einen Krieg schneller zu Ende zu führen als das.

Johannes Reimer
aus: Die Brücke 1/2024

Foto: dall-e by openai.com