Religiöses Trauma – ein Drahtseilakt für Gläubige und Gemeinden
Dass ich zu den Theologischen Studientagen in Hofgeismar eingeladen wurde, hat mich ganz besonders gefreut. Im Rahmen des übergeordneten Themas „Trauma“ durfte ich einen Workshop halten zu einem speziellen Dilemma: „Religiöses Trauma – ein Drahtseilakt für Gläubige und Gemeinden“.
Für mich persönlich war es insofern ein spannender Termin, als ich seit mehreren Jahren nicht mehr Mitglied einer Gemeinde bin und noch dazu selbst schmerzhafte Erfahrungen in diesem Umfeld gemacht habe. Das eigene Erleben führte auch dazu, dass meine Arbeit als Psychologische Beraterin eine unerwartete Wendung nahm: Weil ich selbst damals kaum professionelle Unterstützung finden konnte (was nicht bedeutet, dass ich nicht verständnisvolle Menschen an meiner Seite hatte), und auch in der Literatur und im Internet noch wenig Hilfreiches zu finden war, wurde dieses Thema immer mehr zum unfreiwilligen Schwerpunkt meiner Arbeit. Heute sind etwa 75 % meiner Klientinnen und Klienten religiös verletzte Menschen.
Trotzdem habe ich nicht vergessen, wie es ist, Teil einer lebendigen Glaubensgemeinschaft zu sein, sich dort wohl und zuhause zu fühlen und keine Ahnung zu haben, wie sehr das, was man selbst glaubt und verkündet, andere irritiert, verletzt und ausgrenzt. Ich frage mich manchmal, was MIR denn geholfen hätte, schon früher sensibler für die Schattenseiten meines Glaubens zu werden. Vieles von dem, was ich einst geglaubt und gepredigt habe, tut mir heute leid. Gemeindestrukturen und -prozesse, die ich mehr oder weniger aktiv unterstützt habe, sehe ich heute problematisch. Für manche Gespräche, die ich geführt habe, schäme ich mich.
Ich habe erlebt, dass Bildung und Begegnung für mich wesentliche Schlüssel waren, um über den Tellerrand sehen zu können. Auch deshalb – und weil ich wünschte, mein früheres Ich hätte solches gehört – freue ich mich über jede Gelegenheit, in Gemeinden zu diesem Thema zu sprechen.
Wenn meine Klientinnen und Klienten mir ihre Geschichten erzählen, taucht immer wieder die Frage auf: Wie kann ich noch in Beziehung bleiben zu den Menschen, deren religiöse Überzeugungen ich nicht mehr teile, weil sie mich und andere verurteilen und tief verletzen. Geht das überhaupt?
Die Geschichten der Verletzten
Ich denke an Mike*, einen jungen Mann, der in einer christlichen Organisation angestellt war und zunehmend Zweifel am Sinn von Mission und wesentlichen Glaubensinhalten bekam. Er bat mich, ihm zu helfen, die Zeit bis zur Kündigung zu überstehen. Ehrlichkeit war für ihn ein hoher Wert. Deshalb fühlte er sich als Lügner und Verräter, weil er es nicht schaffte, seinen Kolleginnen und Kollegen den wahren Grund für seinen Weggang zu erklären. Er mochte sie sehr und hatte doch Angst vor ihren verurteilenden Reaktionen.
Ich denke an Carla, die als Kind von ihren Eltern wegen einer Behinderung in zahlreiche Heilungsgottesdienste mitgenommen wurde – in bester Absicht und doch so traumatisierend für ein Kind, das nur fühlte, dass etwas mit ihm nicht richtig sei und sein Schicksal anscheinend vom inbrünstigen Gebet bestimmter Menschen und dem Willen Gottes abhing – ausgesetzt auf fremden Bühnen mit fremden Menschen in verstörenden Ritualen. Sie geht heute in keinen Gottesdienst mehr, den Kontakt zu ihren Eltern hat sie abgebrochen.
Ich denke an Janick, einen ehemaligen Jugendpastor. Er vermisst seine Gemeinde, die Gemeinschaft, die tiefen Gespräche, die bunten Aktionen, die leidenschaftliche Begeisterung, aber in letzter Zeit hatte es zunehmend theologische Dissonanzen mit den Ältesten gegeben. Er verließ die Gemeinde, bevor sie ihm kündigen würde. „Ich vermisse sie sehr, aber ich kann das nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, was dort gelehrt und gelebt wird. Wenn ich es ansprechen würde, würden sie mich verurteilen und als verloren bezeichnen, den Jugendtreff dürfte ich nicht mehr leiten. Das will ich mir und ihnen nicht antun.“
Und dann ist da noch Silvia, die nur noch ihrem Mann und ihren Kindern zuliebe in den Gottesdienst geht. Sie kann die Predigten kaum noch ertragen, muss oft mitten im Lobpreis den Raum verlassen, Rückenschmerzen vorschiebend. Dieses Doppelleben zu führen, kostet sie viel Energie und vielleicht bald ihre Gesundheit, aber ihr Mann ist sehr engagiert in der Gemeinde und die Kinder haben Freunde. Niemand dort ahnt, wie es in ihr aussieht.
Und da ist Achim, der sich endlich zu seiner Homosexualität bekannt hat. Auch wenn er viel von seinem früheren Glauben hinterfragt, bezeichnet er sich immer noch als Christ. In seiner ehemaligen Gemeinde gilt sein Leben als sündhaft und nicht von Gott gesegnet. Noch dazu ist sein Vater Gemeindevorstand.
Die andere Seite
Vielleicht hast du bis jetzt gedacht, dass du keine religiös traumatisierte Person kennst. Oder doch? Denn all diese Menschen haben (gläubige) Kollegen, Freunde, Verwandte, Partner, Kinder, Gemeinde:
Ein Kollege von Mike spürt, dass irgendetwas anders ist. Früher war Mike immer so leidenschaftlich in den Projekten, so innig in den morgendlichen Gebetsgemeinschaften. Jetzt lässt er sich öfter entschuldigen, antwortet ausweichend, teilt kaum noch Persönliches. Sein Kollege wagt es nicht, ihn darauf anzusprechen.
Carlas Eltern leiden. Sie verstehen ihre Tochter nicht. Sie wollten doch nur das Beste für sie, ein normales, gesundes Leben. Vielleicht kann sie deshalb nicht gesund werden, weil sie sich von Gott abgewandt hat? Kein Wunder, denken sie, dass es ihr auch psychisch so schlecht geht, wo sie doch den Halt in ihrem Glauben verloren hat. Ihre Tochter wirkt rebellisch und aggressiv. Die Diskussionen mit ihr sind anstrengend. Vor einem halben Jahr ist Carla wortlos ausgezogen. Der Schmerz der Eltern ist groß.
Die Teens aus Janicks Jugendtreff sind bestürzt, als dieser seinen Weggang verkündet. Sie verabschieden ihn in einem ergreifenden Segensgottesdienst. Mittlerweile ist der Kontakt fast abgerissen. Kaum jemand weiß, wie es Janick jetzt geht. Manche munkeln, er gehe in keine Gemeinde mehr und hätte jetzt einen „weltlichen“ Beruf. Die Jugendlichen vermissen ihn sehr, er war immer so lustig. Bei ihm konnte man über alles reden, auch über Zweifel. Sie verstehen nicht, warum er gegangen ist, aber sie spüren in der Gemeinde ein gewisses Tabu und trauen sich nicht, Fragen zu stellen. Es ist nicht mehr wie früher.
Silvias Mann fühlt sich von seiner Frau im Stich gelassen. Früher waren sie als ganze Familie engagiert, haben vor dem Essen und manchmal auch abends zusammen gebetet. Die letzten Jahre hat Silvia das immer mehr ihm überlassen. Manchmal nach dem Gottesdienst macht sie zynische Bemerkungen über die Predigt oder die Stimmung beim Lobpreis.
Auch Silvias beste Freundin versteht nicht, was los ist. Freilich sieht auch sie manches kritisch, was in der Gemeinde so läuft, aber im Grunde fühlt sie sich wohl. Und wo sollte sie sonst hin?
Der Vater von Achim ist zutiefst enttäuscht von seinem Sohn. Vor allem aber schämt er sich. Er hat versagt, als Vater und als Vorbild der Gemeinde. Achims Mutter steht zwischen den Stühlen. Sie liebt ihren Sohn, aber ihr Glaube steht über allem. Sie betet inständig um seine Heilung. Ab und zu schickt sie ihm tröstende Bibelverse von Liebe, Umkehr und Vergebung. Sie versteht nicht, warum er nie antwortet.
Das unverstandene Leiden
Wenn ich an meine Gemeindezeit denke, fallen mir einige Begegnungen ein mit Menschen, die ziemlich sicher religiös traumatisiert waren. Sie kamen in die Gottesdienste und waren irgendwann wieder weg. Sie saßen in Hauskreisen und stellten unbequeme Fragen. Sie diskutierten und wurden emotional. Sie weinten im Lobpreis und ich dachte, es wäre heilige Ergriffenheit. Sie waren eine Versuchung für die Gemeinde und „säten Zweifel“. Sie standen zwischen der Gemeinde und ihren „ungläubigen“ Partnern oder Kindern. Sie trafen Lebensentscheidungen, die „nicht von Gott gesegnet“ waren. Sie hatten „die Bibel nicht wirklich verstanden“. Ich sah nicht, wie einsam, verletzt und ausgegrenzt sie sich fühlten.
Religiös traumatisierte Menschen werden von Gläubigen oft als sehr anstrengend wahrgenommen. Viele Gespräche enden in heftigen theologischen Diskussionen, in Vorwürfen, Schuldzuweisungen und erneuten Verletzungen. Oft wenden sich religiös verletzte Menschen nicht aufgrund der ursprünglich traumatischen Erfahrung von ihren Gemeinden ab, sondern aufgrund des späteren Verhaltens und der anhaltend misstrauischen oder übergriffigen Reaktionen der Mitglieder.
Menschen wie Mike oder Janick verschwinden manchmal still und heimlich aus ihren Gemeinden oder gehen unter seltsamen Umständen – „da hat es irgendwas gegeben …“. Andere, wie Silvia, bleiben, verabschieden sich aber innerlich und leiden jahrelang an der Not, nicht authentisch sein zu können. Gebrannte Kinder wie Carla oder Achim sehen nur noch den Ausweg des Kontaktabbruchs, um ihre Würde zu retten. Sie hinterlassen verwirrte, ignorante oder ebenfalls verletzte Menschen in Familie und Gemeinde.
Ein paar kurze Erklärungen
Religiöses Trauma bedeutet nicht automatisch, dass jemand auch seinen Glauben ablegt. Es kann die Folge eines erlebten geistlichen Missbrauchs sein, der keinen direkten Einfluss auf den persönlichen Glauben eines Menschen nimmt. Dennoch beginnen viele nach einer solchen Erfahrung damit, ihre bisherigen religiösen Überzeugungen zu hinterfragen.
Wenn Glaube sich verändert, muss dies nicht zwangsläufig traumatisch sein, im Gegenteil: oft wird dieser Prozess als große Befreiung und wertvolle Entwicklung erlebt. Traumatisch wird es dann, wenn die eigenen Glaubensüberzeugungen mit frühkindlichen, auch indirekt angstmachenden Drohbotschaften verknüpft waren („Wenn du Jesus in dein Herz aufnimmst, kommst du in den Himmel“) oder die neue Freiheit auf verurteilende und ausgrenzende Kommentare des bisherigen religiösen Umfeldes stößt („Nun kannst du keine Gemeinschaft mehr mit Gott haben“). Beides kann starke Ängste, Schuldgefühle, Verwirrung und Einsamkeit auslösen.
Trauma, das nicht heilen konnte, hat die Tendenz, sich immer neu zu wiederholen. Es ist wie bei einer Allergie: Jede Begegnung mit dem alten Umfeld, alles Religiöse – Symbole, Bibelverse, fromme Redewendungen oder bestimmte Musik – kann jederzeit eine starke körperlich-emotionale Reaktion auslösen und den Kontakt erschweren. Bisherige Glaubensgeschwister fragen sich: Wie kann dir wehtun, was mich doch so zutiefst erfüllt und trägt?
Beide Seiten sind in ihrer Identität zutiefst getroffen, fühlen sich unverstanden und in Frage gestellt.
Kann hier überhaupt noch Begegnung und Verständigung möglich werden?
Der Drahtseilakt – eine unmögliche Herausforderung?
Ich gebe zu, es ist in der Tat sehr schwierig. Religiöses Trauma konfrontiert Kirchen und Gemeinden quasi mit ihrer DNA und berührt oft zentrale Lehrfragen und jahrhundertealte Traditionen. Diese zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern ist äußerst anstrengend und unbequem, und das Risiko, dann wiederum andere Menschen zu verlieren, die sich in ihrem Glauben zutiefst verunsichert und in der Gemeinde nicht mehr wohl fühlen, ist hoch.
Keine Gemeinde muss sich diesem Thema stellen. Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn eine Glaubensgemeinschaft sich entscheidet, das einmal erarbeitete Bekenntnis, liebgewonnene Traditionen oder vertraute Strukturen zu behalten. Aber die Kirchen leeren sich, und wer bei You Tube den Begriff „Freikirche“ eingibt, wird überrascht sein von den zahlreichen Erfahrungsberichten sogenannter „Aussteiger“, die verletzt, missbraucht und erschöpft die Orte verlassen, an denen sie sich oft viele Jahre und Jahrzehnte, vielleicht sogar von Geburt an wohl gefühlt haben und die sie trotz allen Schmerzes noch lange vermissen werden.
Das Internet dient hier als Katalysator. So wie die Erfindung des Buchdruckes einst weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft, vor allem aber auf Kirche und Religion hatte, so bietet das Internet heutzutage nicht nur eine Fülle von Informationen, sondern auch die Möglichkeit für zweifelnde und religiös traumatisierte Menschen, sich zu vernetzen und Hilfe zu bekommen.
Ist das ein Thema in unseren Gemeinden? (Und ich spreche im Folgenden von „uns“ und „wir“, weil ich damit auch mein früheres Ich zur Verantwortung ziehe.)
Machen wir uns Gedanken darüber, warum Menschen unsere Gemeinden verlassen? Fragen wir sie nach den Gründen, und falls ja, sind wir sicher, dass sie uns ehrlich antworten? Ziehen wir in Betracht, dass in unseren Gottesdiensten und Hauskreisen vielleicht Menschen sitzen, die sich nicht trauen, über ihre innersten Gedanken und Gefühle zu sprechen aus Angst, aus der Gemeinschaft zu fallen? Informieren wir uns über Themen wie Religiöses Trauma, Geistlicher Missbrauch, Dekonstruktion, und haben wir dazu eine offene Gesprächskultur?
Wo werden unsere Mitarbeiter und Angestellten geschult? Sind sie vorwiegend theologisch – dogmatisch ausgebildet oder haben sie auch pädagogische und psychologische Kenntnisse? Immerhin geht es in Gemeinden ja vorwiegend um Menschen.
Wie geht es uns mit Tabus wie (Homo-) Sexualität und vorehelichem Geschlechtsverkehr? Ziehen wir hier unsere Erkenntnisse aus jahrtausendalten Schriften oder hören wir auch Psychologen, Mediziner und Therapeuten zu diesen Themen?
Wie viel Raum bieten wir für unterschiedliche Formen von Spiritualität und Gottesbildern, für Zweifel und wissenschaftliche Erkenntnisse?
Welche Konsequenzen hat es für den Einzelnen, wenn sich sein Glaube verändert? Und was tun wir, wenn die Zweifel der einen den Glauben der anderen verunsichern?
Wo alles beginnt …
Das Thema, das uns im Workshop vielleicht am meisten beschäftigt hat, sind die Bereiche Kinder- und Jugendarbeit und die Glaubenserziehung in den Familien. Glaube fällt ja nicht einfach vom Himmel. Er wird vorgelebt, beigebracht, erzählt, aufgeschrieben, vorgesungen, nachgelesen, liebgemacht oder indoktriniert. Kein Kind kommt mit einem bestimmten Glauben auf die Welt, wohl aber mit neugierigen Fragen und manchmal (nicht immer!) mit einer gewissen spirituellen Neigung. Wie antworten wir auf diese Fragen? Was hören Kinder und Jugendliche in den Kindergottesdiensten und auf Freizeiten? Welches Gottesbild wird ihnen vermittelt und wie viel Vielfalt darf da sein?
Stärken wir den Selbstwert unserer Kinder und auch ihre religiöse Mündigkeit? Dürfen sie kritische Fragen stellen und anderer Meinung sein? Fördern wir ihre Neugier und einen konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Überzeugungen?
Religiöses Trauma fängt in der Regel nicht erst damit an, dass ein Mensch seinen bisherigen Glauben hinterfragt. Auch nicht damit, dass er missbräuchliche Erfahrungen in einer Glaubensgemeinschaft macht oder eine solche verlässt oder verlassen muss. Religiöses Trauma beginnt bereits damit, wie man einem Kind Glauben nahebringt. Es ist, als würde ein Pflaster auf eine noch sehr dünne und weiche Haut geklebt, wo eigentlich gar keine Wunde war. Erst über die Jahre beginnt die Haut darunter zu jucken, vielleicht zu brennen oder sich zu entzünden und der Drang, dieses Pflaster loszuwerden, wächst. Die Wunde entsteht dann manchmal erst durch das Abreißen: Mühsam muss de-konstruiert werden, was in formbaren Kinderköpfen konstruiert wurde.
Dieses Dilemma berührt ein sensibles Thema: Eltern und Gemeindemitarbeitende möchten Kindern das nahebringen, was sie kennen und selbst als haltgebend und richtig für sich erlebt haben. Können Geborgenheit, Werte und Gemeinschaft auch ohne dogmatische Antworten mit Wahrheitsanspruch vermittelt werden?
Wie Kinder religiös erzogen und in Gemeinschaften integriert und geprägt werden, wirft auch eine gesellschaftspolitische Frage auf, auf die ich selbst keine befriedigende Antwort habe: In unserem Land ist Religionsfreiheit ein hohes Gut. Auch die Erziehungshoheit der Familien. Doch wer schützt die Kinder vor der Religionsfreiheit ihrer Eltern?
Authentizität und Neugier: die Chance in der Begegnung
Wer sich mit Religiösem Trauma beschäftigt, merkt schnell, wie schwierig es ist, konkrete Alternativmodelle für Gemeinden aufzuzeigen. Ein erster Schritt kann darin bestehen, für die Gefahr von religiösem Trauma zu sensibilisieren und die eigenen Leitungsstrukturen, Gesprächskultur oder Glaubensinhalte dahingehend zu überprüfen.
Auch geht es um Mut und Neugier, sich auf den Weg zu machen, ohne schon wissen zu können, wohin der Prozess führen wird. Man kann keine neuen Kontinente entdecken, solange man an alten Fundamenten klebt. Das ist freilich nicht leicht für ganze Gemeinschaften.
Aber Gemeinden bestehen aus Einzelnen. Und hier kann man ansetzen: an ehrlichen zwischenmenschlichen Begegnungen.
Die Liebe aber ist die größte unter ihnen …
… auch größer, als der persönliche Glaube.
Deshalb wage den Kontakt, wenn dein Interesse aufrichtig ist. Religiös Traumatisierte haben ein feines Gespür für Echtheit – zu lange waren sie in Systemen, in denen bedingungslose Liebe gepredigt, aber Ausgrenzung gelebt wurde.
Hab keine Angst, persönliche Fragen zu stellen, aber tu dies neugierig und um zu lernen, nicht um zu diskutieren. Frage nicht: was glaubst du (noch)? Sondern: was hast du erlebt?
Spür gut in dich hinein: Vielleicht hast du das Gefühl, deinen Glauben, die Bibel, Gott, deine Gemeinde oder bestimmte Personen verteidigen zu müssen? Stehst du womöglich in einem Loyalitätskonflikt oder hast eigene Interessen (z. B. einen guten Mitarbeiter halten zu wollen)? Dies gilt besonders für Menschen in einer pastoralen, leitenden oder seelsorgerlichen Funktion.
Wie ehrlich kannst du eigene Ängste, Zweifel, Verwirrung und Ratlosigkeit zugeben?
Und schließlich: Hast du selbst schon einmal Verletzungen im Rahmen von Glaube / Gemeinde erlebt? Was hat dir damals geholfen? Berührt das Trauma des Anderen deine eigenen Wunden?
Diese Gesellschaft braucht so notwendig integrative und heilsame Wertegemeinschaften. Vor allem aber braucht sie Einzelne, die den Schritt aus ihren Prägungen und Traditionen wagen und im Gegenüber nicht die Bedrohung, sondern den Menschen sehen. Solchen interessierten und mutigen Einzelnen bin ich auf den Studientagen und in unserem Workshop begegnet. Das freut mich sehr und lässt mich zuversichtlich und gespannt in die Zukunft blicken.
Claudia Stangl
begleitet als Psychologische Beraterin u. a. Menschen mit religiösem Trauma, als selbst Betroffene fühlt sie sich dennoch der christlichen Welt und insbesondere der mennonitischen Gemeinschaft herzlich verbunden
https://www.claudiastangl.de/
*Namen und Identitäten verändert