Täufergeschichte als „Chosen Trauma“

Wie unsere Geschichte unsere Gemeinden prägt– Ein kritischer Blick auf das, was wir einander über unsere Herkunft erzählen und wie wir förderlich damit umgehen können. Wiedergabe eines Workshops, gehalten im Rahmen der AMG-Studientage, 06.-10. Okt. 2024

In meinem Input geht es um die Auswirkungen, die ein Trauma aus der fernen Geschichte auf uns heute haben kann. Es geht um historische Traumata der Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen.
In diesem Artikel beziehe ich mich auf die Geschichte der frühen Täufer, aber man kann auch ein ganz anderes traumatisches Narrativ heranziehen. Das Interessante an den frühen Täufern ist allerdings, dass die überlieferten Erzählungen ambivalent sind:

Zum einen sehen wir den Mut, für die eigene Überzeugung einzustehen, ihr Leben für ihren Glauben aufs Spiel zu setzen, sich nicht einfach den Machthabern zu beugen.

Auf der anderen Seite die fürchterlichen Folgen: Ertränkung, Verbrennung, Gefängnis unter schrecklichsten Bedingungen, Ausgrenzung und Vertreibung. Alles Erfahrungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit traumatisch auf die Überlebenden wirkten.

Wie kann uns Geschichte bis heute prägen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir einen Blick auf das Konzept des historischen Traumas. Es beschreibt, wie Traumata über lange Zeiträume hinweg eine Rolle spielen können. Es ist ein Modell, das uns helfen kann zu verstehen, wie z.B. unsere Erzählungen über die frühen Täufer und ihre traumatischen Erfahrungen, aber auch ihre Erfolge uns heute noch prägen können, in der Art, wie wir uns selbst verstehen, wie wir unseren Glauben leben und wie wir ihn nach außen vertreten.
Im Zentrum der Traumaforschung stehen die Fragen: Welche Narrative prägen eine Gruppe? Welche Narrative sind Teil der Gruppenidentität geworden?

Wenn eine bestimmte Gruppe ein Trauma durchgemacht hat, kann es sein, dass von diesem Ereignis immer wieder erzählt wird und sich so eine Erzählung entwickelt, die zum unverzichtbaren Erbe dieser Gruppe wird. Diese Erzählung bezeichnet Vamik Volkan als Chosen Trauma (2010, S. 50).
Dabei geht es nicht um eine Wahl im Sinne einer bewussten Auswahl verschiedener Geschichten. Es ist vielmehr eine Erzählung, die bestimmend geworden ist, die aus dem tiefen Bedürfnis einer Gruppe heraus erwachsen ist, immer und immer wieder darüber zu sprechen, weil es bisher nicht gelungen ist sie zu verarbeiten und die notwendigen „Traueraufgaben“ abzuschließen (1997, S. 43).

Wenn eine Gemeinschaft keine geeigneten Lösungen zur Bewältigung der Ereignisse findet, wird das Trauma Teil der kulturellen Identität und beeinflusst die Gruppe auch noch lange nach dem traumatischen Ereignis und dem Ende der physischen Gefahr. (Fierke, 2004, S. 488; Volkan, 2010). Volkan (1997) ist der Ansicht, dass, „wenn Mitglieder der Gruppe nicht in der Lage sind, die Trauer über ihre Verluste anzugehen oder zu bewältigen, oder ihre Gefühle der Demütigung umzukehren, können ihre traumatisierten Selbstbilder an spätere Generationen weitergegeben werden. Das in der Hoffnung, dass andere in der Lage sein werden, das zu betrauern und zu bewältigen, was die vorherige Generation nicht konnte“ (ibid., S. 45).

Denn „der Mensch kann Veränderungen nicht akzeptieren, ohne um das zu trauern, was er verloren hat“. (ibid., S. 36).

Die israelisch-US-amerikanische Wissenschaftlerin Yael Danieli (2007) stellt fest, dass das Trauma zu einem „unbewussten Organisationsprinzip“ wird, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und „die Matrix bildet, innerhalb derer sich normale Entwicklungskonflikte abspielen“. (ibid., S. 69).
Ein ausgewähltes Trauma kann über lange Zeiträume schlummern. Wenn es jedoch in bedrohlichen Situationen reaktiviert wird, versucht die Gruppe, ihre Identität zu reparieren und zu bewahren. (Volkan, 2010, S. 54). Die erinnerte Demütigung und Hilflosigkeit könnte dann zu einem „Zeitkollaps“ führen. Volkan (1997) erklärt, dass sich „die Interpretationen, Phantasien und Gefühle eines gemeinsamen vergangenen Traumas mit der gegenwärtigen Situation vermischen. Unter dem Einfluss eines Zeitkollapses können die Menschen das vergangene Ereignis intellektuell von der gegenwärtigen Situation trennen, aber emotional sind die Ereignisse miteinander verschmolzen“. (ibid., S. 35).

Karin Fierke (2004), Prof. an der St. Andrews University in Schottland, beschreibt, wie Reporter während der Balkankriege bei Berichten über Gräueltaten oft nicht wussten, ob diese sich gestern, vor fünfzig, hundert oder fünfhundert Jahren ereignet hatten. Aktuelle Ereignisse vermischten sich mit Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg oder aus mythologisch aufgeladenen Erzählungen rund um die Schlacht auf dem Amselfeld 1389.

Transgenerationale Weitergabe

Wir haben gesehen, dass die Phänomene wie „Chosen Trauma“ und „Time Collapse“ noch Jahrhunderte nach einem Ereignis eine Rolle spielen können. Neben dem von Volkan geprägten Ansatz hat sich in den letzten 20 Jahren zunehmend der Begriff des „historischen Traumas“ etabliert.
Mohatt et al. (2014) definieren historisches Trauma als „komplexes und kollektives Trauma, das im Laufe der Zeit und über Generationen hinweg von einer Gruppe von Menschen erlebt wird, die eine gemeinsame Identität, Zugehörigkeit oder Situation teilen“. (ibid., S. 2)

Historische Traumata verbinden traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit mit den lokalen Gegebenheiten, „um das Trauma zu einem Teil der kulturellen Erzählung der Gegenwart zu machen“. (ibid., S. 5) Die Erzählungen verbinden frühere Ungerechtigkeiten mit der heutigen, aktuellen Situation. (ibid., S. 6)

Hier der Versuch, eine grobe Parallele zur Täufergeschichte zu ziehen:
Die Ereignisse von damals, wie Verfolgung und Ausgrenzung, werden über Generationen tradiert. Wenn dann Ereignisse eintreten, wie etwa Einschränkungen durch staatliche Stellen (Corona-Maßnahmen) oder Ablehnung durch andere Kirchen, werden möglicherweise die heutigen Ereignisse im Rahmen des Narrativs gedeutet: Was heute geschieht ist genau wie damals. Auch damals hat uns der Staat verfolgt – jetzt wieder.

Es geht dabei gar nicht darum, ob die geschichtlichen Ereignisse wirklich mit heute verglichen werden können. Es geht hier vielmehr um eine Repräsentation: Was ich heute sehe, sehe ich im Licht des Narrativs meiner Gruppe, also im Licht meines „Chosen Traumas“. Ein heutiges Ereignis löst etwas bei mir aus, das mich in irgendeiner Weise an meine Geschichte erinnert.

Deswegen setzten die Forscher um Nathaniel Mohatt bei der Bearbeitung eines historischen Traumas nicht primär bei der traumatischen Geschichte an («Was hat das Trauma von damals bewirkt?“), sondern bei dem, was für die Personengruppe heute Erinnerungspunkte für die traumatische Geschichte sind. Denn diese aktuellen Ereignisse als Erinnerungspunkte geben dem Narrativ ganz spezifische Bedeutung: Das Narrativ, das eher eine ferne Geschichte war, bekommt jetzt durch einen aktuellen Erinnerungspunkt eine aktualisierte Bedeutung für einzelne Personen, Familien und Gruppen.

Unsere Narrative haben eine Auswirkung darauf, wie wir unser Heute deuten. Und das wiederum kann bedeuten, dass eine Gruppe durch die Narrative entweder gestärkt oder eher geschwächt wird. Mohatt beschreibt, dass je stärker die heutige Bedeutung mit einem historischen Ereignis in Verbindung gebracht werden kann, desto eher hat das Narrativ dahinter gesundheitliche Auswirkungen. (2014, S. 13) Je stärker uns also die aktuelle Situation an das erinnert, was wir uns von damals erzählen, desto stabiler, ist die Brücke zwischen den traumatischen Erfahrungen von damals und heute. Kein Wunder also, dass bei einer stabilen Brücke auch die Traumafolgen über diese Brücke spazieren können.

Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken, welche Erzählungen uns prägen: Welche Geschichten erzählen wir uns? Wie hängen unsere Erzählungen mit dem zusammen, was wir als Gemeinde tun?
Bei der Suche nach Antworten, können unsere „Reizthemen“ einen Hinweis geben: Auf welche Themen reagieren wir besonders? Inwiefern verbinden wir diese Themen mit unserer Identität als einzelne und als Gemeinde?

Wie kann man hilfreich mit der eigenen Geschichte umgehen?

Wie kann ein historisches Trauma geheilt werden? Oder besser gesagt: Wie kann ein historisches Trauma seine destruktive Kraft verlieren und stattdessen zu Wachstum und Resilienz führen?

Wie oben erwähnt, beobachteten Mohatt und sein Team, dass historische Traumata sowohl positive als auch negative gesundheitliche Auswirkungen haben können:
Positive gesundheitliche Auswirkungen entstehen, wenn das Narrativ Coping-Strategien enthält. Geschichten, wie Menschen trotz all dem Schlimmen durchgehalten und Heldentaten vollbracht haben.
Negative Auswirkungen sind dann zu erwarten, wenn das Narrativ keine hilfreichen Auswege zeigt und immer wieder der eigene Verlust und die eigene Hilflosigkeit erzählt werden.
In der Traumaforschung wird hervorgehoben, dass ein heilsamer Umgang damit zu tun hat, ob es gelingt, ein zusammenhängendes Narrativ kultureller Kontinuität und eines Gemeinschaftsgefühls zu entwickeln (ibid., S. 8). Mohatt schreibt, dass Klarheit über die eigene kulturelle Identität einen Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden hat (ibid.). Narrative helfen, sich selbst in einer generationenübergreifenden Geschichte zu verorten und geben so besonders Heranwachsenden aber auch Randgruppen Halt.
Gerade weil viele historische Traumata eine Mischung aus Verlust und Resilienz sind, liegt in den Narrativen auch schon eine Hilfe. Es wird darum gehen, einerseits den Verlust zu betrauern, sich daran zu erinnern, aber gleichzeitig die Stärken nicht aus dem Blick zu verlieren. Orte, an denen man sich an das Trauma erinnert, können gleichzeitig Orte werden, an denen man zusammenkommt und die Ausdauer und Widerstandskraft erlebt.

Das kann natürlich auch missbraucht werden, um eine Gruppe gegen eine andere aufzuhetzen. Zu diesem Thema hat Miroslav Volf (2021) ausführlich in seinem Buch The End of Memory. Remembering Rightly geschrieben.

Um Heilung zu fördern, geht es darum, ein kohärentes Narrativ zu erstellen. Das beinhaltet zwei Aufgaben:

  1. Verluste anerkennen. Die emotionalen Lasten, das Schwere der Geschichte – durchaus auch der eigenen Geschichte wahrzunehmen, zuzulassen. Sich bewusstzumachen, dass ein historisches Trauma seine Spuren hinterlassen hat. Die Historiker der Täufergeschichte haben in diesem Bereich unglaublich viel getan: Die großen Linien bis hin zu Einzelschicksalen wurden untersucht. Gedenkorte an vielen Stellen errichtet. Für Natalie Avalos, die historische Traumata von Native Americans untersuchte, kann es so gelingen, einen Sinnzusammenhang des eigenen Lebens herzustellen. Das sei es, worum es letztlich bei der Bearbeitung eines historischen Traumas gehe (2021, S. 496).
  2. Coping (Bewältigungsmöglichkeiten) und Resilienz entdecken. Neu die eigene Kultur entdecken und die Stärken der Gemeinschaft. Es ist eine Geschichte, die aus Verlust und (!) Resilienz besteht. Eine Mischung aus Trauerarbeit und der Stärke der eigenen Geschichte. Das kann dann die Kraft geben, Feindschaft zu überwinden und eine neue Geschichte zu schreiben.
    Das Narrativ eines historischen Traumas wird immer wieder durch aktuelle Ereignisse aktualisiert wird. So können historischen Traumata prägen, wie wir Gemeinde leben.


Was kann man tun, wenn man merkt, dass ein aktuelles Ereignis sich mit einer traumatischen Erzählung verbindet, dass eine Brücke zur Vergangenheit entsteht? Ereignisse wie die Pandemie oder der Kriegsbeginn in der Ukraine waren typische Auslöser-Ereignisse. Im Kontext des historischen Traumas könnten sie dazu führen, dass das Narrativ des Traumas wieder Bedeutung gewinnt und eine ungünstige Dynamik entsteht.

Carolyn Yoder fasst in ihrem Buch „Heilsam mit traumatischen Erlebnissen umgehen“ ein paar Empfehlungen von Vamik Volkan zusammen (2022, S. 113). Um eine Vermischung von Geschichte und aktuellen Ereignissen zu unterscheiden schlägt Yoder vor:

  • Fantasie und Realität sowie Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden;
  • Gefahren realistisch bewerten, sich ihnen stellen und auf Problemlösungen hinarbeiten;
  • lernen, in feindlichen Gruppen und Angreifenden die konkreten Menschen sehen;
  • die Spannung von Paradoxen aushalten;
  • die Beziehungen zwischen Familien, Sippen und anderen Gruppen, die die Wiederanknüpfung des Einzelnen mit der Wirklichkeit unterstützen, wiederherstellen;
  • die Redefreiheit wertschätzen und überlegen, was moralisch geboten ist.

Deswegen scheint es mir lohnenswert, als Gemeinschaft immer wieder einmal über das eigene Narrativ zu sprechen:

  • Welche aktuellen Ereignisse triggern reflexartige Antworten und erinnern uns an unser Narrativ? Welche Bedeutung bekommt dadurch unser Narrativ? Wie stark wird also die Verbindung zwischen traumatischen Ereignissen und dem, was wir heute erleben?
  • Haben wir getrauert? Es gibt inzwischen viele Gedenkorte, die besucht werden können, an denen man bewusst trauern kann.
  • Welche Widerstandskraft, Resilienzfaktoren finden wir in unserer Geschichte, die wir hervorholen können? Gerade auch in Bezug auf den Dienst an der Gesellschaft gibt es erstaunliche und berührende Geschichten, in denen die frühen Täufer inmitten von Verfolgung sich für ihre Umgebung eingesetzt haben. Unter anderem ist auch der berühmt gewordene Täufer Dirk Willems so ein Beispiel.

Welche Narrative uns prägen, hat eine Auswirkung auf die Art, wie wir handeln. Wenn uns 0unsere Narrative bewusst sind, können wir lernen, damit umzugehen.

Marcus Weiand
Bildungszentrum Bienenberg

aus: DIE BRÜCKE 1/2025