Deboras Siegeslied mit dem zweiten Blick

Die mit dem Menno-Simons-Predigtpreis ausgezeichnete Predigt von Riki Neufeld wurde in der BRÜCKE 6/2024 abgedruckt. Hier zum nachlesen

Es gab vor einiger Zeit zwei Lieder, die zum einem besonderen Genre gehören und im Radio rauf und runter liefen: „I can buy myself flowers“ war eines dieser Lieder und zwar von Miley Cyrus und auch das andere Lied von der kolumbianischen Sängerin Shakira schlug hohe Wellen weil sie ein besonderes Merkmal hatten. Es waren sogenannte „Abrechnungslieder“. Beide Songs haben die bedeutsame Gemeinsamkeit, die sie auch so erfolgreich machen, dass die Künstlerinnen ihre jeweiligen zerbrochenen Beziehungen darin verarbeiten.
Nun gibt es sehr viele Lieder, die über zerbrochene Beziehungen singen – aber diese zwei stechen nochmal ganz anders hervor. Hier wird nicht über das Leid geklagt und nachgetrauert. Ganz im Gegenteil – hier wird abgerechnet…
So singt Cyrus zum Beispiel: „Blumen kann ich mir selber kaufen, meinen Namen kann ich auch selber ganz schön in den Sand schreiben; und was ich definitiv viel besser kann, ist mich selber zu lieben, besser als dass du es jemals konntest“.
Shakira deutet in ihrem Welthit auf den Betrug ihres ehemaligen Partners hin, aber macht das nicht im Selbstmitleid. Ganz im Gegenteil singt sie, dass er eine Rolex (sie selbst) gegen eine Cassio eingetauscht habe – einen Ferrari gegen einen Twingo. Damit beleidigt sie in zwei Zeilen eine Automarke, eine Uhrenmarke den Ex-Partner und seine neue Partnerin zugleich. Beeindruckend… Das kann Kunst!
Diese Erfahrungen hätten die Künstlerinnen ja auch in einem Buch oder Interview mitteilen können, aber stattdessen haben sie es in Lieder gepackt, die so richtige Ohrwürmer sind und die Fähigkeit haben, einem Tag und Nacht nicht mehr aus dem Kopf zu gehen. Möglicherweise haben sie gerade dadurch nochmal eine ganz andere Wirkung in der breiten Öffentlichkeit erzielen können. Das ist die Kraft von guter Kunst.
Zu der Zeit, als diese Lieder so populär waren, bin ich auf ein Lied in der Bibel gestoßen, das mich so richtig gepackt hat. Es ist möglicherweise das älteste Lied der Bibel und ähnlich wie bei M.C. und Shakira, wird hier eine der besonders intensiven Erfahrungen im Leben Israels verarbeitet.
DIESES Lied wurde auch von einer Frau geschrieben, und im Höhepunkt des Liedes geht es um eine andere Frau, die mit einem Mann abrechnet und zwar in einer noch einiges blutigeren Art und Weise.

Das Lied Deboras
Erlaubt mir, euch in dieses Lied mit hineinzunehmen. Denn es hat mich besonders in Bezug auf den Krieg in der Ukraine, sehr beschäftigt, der mittlerweile zweieinhalb Jahre dauert. Damals, als mir dieser Text zum ersten Mal auffiel, war es gerade ein Jahr her, seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Tragischerweise hält der Krieg an und diese biblischen Worte bringen nach wie vor erstaunliche Parallelen zum Vorschein.

Das besagte Lied finden wir im Buch Richter Kapitel 5 unter dem Titel Deboras Siegeslied. Es erzählt von einer Begebenheit, in der das Volk Israel, welches zu dem Zeitpunkt noch sehr unorganisiert und stammes-
mäßig unterwegs ist, vom benachbarten Volk Kanaan überfallen und unterdrückt wird.
Das Gesicht der Feindesmacht ist Heerführer Sisera, der eine beeindruckende Armee anführt.

„Die Israeliten schrien zum Herrn, denn er (Sisera) hatte 900 Wagen aus Eisen und unterdrückte die Israeliten mit Gewalt 20 Jahre lang“ (5,3)

Nach 20 Jahren waren die Umstände im Lande erbärmlich: der Mut war der Bevölkerung in die Hosen gerutscht und die Fähigkeit, sich mit Waffen zu verteidigen, hatte deutlich abgenommen:

6 Zu den Zeiten Schamgars, des Sohnes Anats, zu den Zeiten Jaëls waren verlassen die Wege, und die da auf Straßen gehen sollten, wanderten auf ungebahnten Wegen.
7 Starke fehlten, in Israel fehlten sie, bis du, Debora, aufstandest, bis du aufstandest, eine Mutter in Israel.

In der Woche, als sich der Krieg in der Ukraine jährte, wurden in den Nachrichten und sozialen Medien besonders häufig immer wieder Bilder von zerstörten Dörfern und Strassen gezeigt, in denen das würdevolle Leben verunmöglicht worden war.
Israels Situation hatte zu der Zeit ähnlich tragische Züge. Aber das Volk machte eine Erfahrung, wie es sie immer wieder in den Jahrhunderten seiner Geschichte gehabt hatten: Ein rettender Gott griff ein und befreite.
Es geschah nicht sofort. 20 Jahre lang wurden sie unterdrückt. Aber für Israel war deutlich, dass die Befreiung letztlich von Gott kam.

4 HERR, als du auszogst von Seïr, als du einhergingst vom Gefilde Edoms, da erzitterte die Erde, auch der Himmel troff, auch die Wolken troffen von Wasser.
5 Die Berge erbebten vor dem HERRN – das ist der Sinai –, vor dem HERRN, dem Gott Israels.

Gott machte den Unterschied in dieser Notsituation.

Eine geschwächte Truppe fasst neuen Mut
Dann singt dieses Lied aber auch von den schwachen Stämmen, die sich aufmachten, um im Namen Gottes gegen die Angreifer anzutreten.

9 Mein Herz ist mit den Gebietern Israels, mit denen, die willig waren unter dem Volk. Lobet den HERRN!
12 Auf, auf, Debora! Auf, auf und singe ein Lied! Mach dich auf, Barak, und fange, die dich fingen, du Sohn Abinoams!

Barak war der Heerführer Israels, derjenige, der in dieser antiken patriarchalen Logik eigentlich der Held sein sollte. In dieser Geschichte spielt er aber nur eine Nebenrolle. Die Protagonisten sind anderswo zu finden…
Und so singt Debora weiter:

13 Da zog herab, was übrig war von herrlichen im Volk. Der HERR zog mit mir herab unter den Helden.
14 Sie zogen herab aus Ephraim, dessen Wurzeln in Amalek sind, dir nach, Benjamin, mit deinen Scharen. Von Machir zogen Gebieter herab und von Sebulon, die das Zepter halten.
15 Die Fürsten in Issachar waren mit Debora, und Issachar folgte ihm, Barak, auf dem Fuß in die Ebene.

Diese Völker waren nicht mächtig und stark. Sie waren nicht gut gerüstet und eigentlich chancenlos gegen die Angreifer rund um Sisera.
Ein hartes Wort für diejenigen die nicht mitkamen
Das sahen wohl auch einige der Stämme, die nicht mitzogen in den Krieg, und diese Stämme hat Debora in ihrem Lied auch nicht vergessen.
In Rubens Scharen überlegten sie hin und her.

16 Warum saßest du zwischen den Hürden, zu hören bei den Herden das Flötenspiel? In Rubens Scharen überlegten sie hin und her.
17 Gilead blieb jenseits des Jordans. Und warum weilt Dan bei den Schiffen? Asser saß am Ufer des Meeres und blieb ruhig an seinen Buchten.
23 Fluchet der Stadt Meros, sprach der Engel des HERRN, fluchet, fluchet ihren Bürgern, dass sie nicht kamen dem HERRN zu Hilfe, zu Hilfe dem HERRN unter den Helden!

Kennt ihr den Moment, wenn man die Bibel liest, und es einem mit einmal sehr unangenehm zumute wird? Dies ist für mich so ein Moment.
Beim Lesen dieser Verse muss ich unwillkürlich an die Fragen denken, die Politik und Gesellschaft in diesen letzten Jahren noch einmal in besonderer Weise geplagt und beschäftigt haben. Vor Augen war uns dieser ungerechtfertigte Angriffskrieg Russlands. In unseren Ohren die Bitten aus der Ukraine um Unterstützung, besonders in Form von Waffenlieferungen.
Wenn es einen Bibeltext bräuchte, der es legitimieren könnte, uns sogar dazu nötigen könnte, mit jeder Form von Kampfgewalt die Ukraine zu unterstützen, dann würden wir ihn in diesen Versen aus dem Lied Deboras finden.
Und es geht sogar noch einen Schritt weiter. Hier wird von Gott, dem HERRN, gesprochen, der Hilfe brauchte im Kampf gegen die Übeltäter, eine Hilfe die ihm von den Stämmen und insbesondere von der Stadt Meros verweigert wurde.
Puh – einer dieser Texte, die man in einer Friedenskirche am liebsten nicht liest – oder wenn, dann am besten schön sauber wegerklärt. Aber ich denke, ich wiederstehe der Versuchung an dieser Stelle und lasse den Text vorerst mal so stehen…

Die Schlacht
Stattdessen hier ein kleiner Einblick dahinein, wie Debora diese Schlacht beschrieb:

19 Könige kamen und stritten; damals stritten die Könige Kanaans zu Taanach am Wasser Megiddos, aber Silber gewannen sie dabei nicht.
20 Vom Himmel her kämpften die Sterne, von ihren Bahnen stritten sie wider Sisera.
21 Der Bach Kischon riss sie hinweg, der uralte Bach, der Bach Kischon. Tritt einher, meine Seele, mit Kraft!

Es war eindeutig für Debora, dass nicht der männliche Mut und die überragenden Waffen der israelischen Stämme den Unterschied in diesen Kämpfen machten, sondern die Kräfte der nicht menschlichen Schöpfung: Wasser, Sterne, Fluten setzten sich alle gegen die Angreifer, kämpften für Israel und machten den ausschlaggebenden Unterschied, der das feindliche Heer verwirrte und in die Flucht schlug.

Jaël
Und dann taucht eine Frau auf, auf dem Höhepunkt der Geschichte: Jaël!
Sisera, der Tyrann, ist auf der Flucht und landet im Zelt eines Keniters, der Heber heißt und der ihm wohlgesonnen ist. Keniter und Kanaaniter waren Freunde.
Ermüdet und erschöpft möchte er sich einen Moment an einem Ort, den er als „sicher“ einschätzt, ausruhen. Dort trifft er Jaël, die Frau des Keniters, von der Debora Folgendes schreibt:

24 Gepriesen sei unter den Frauen Jaël, die Frau Hebers, des Keniters; unter den Frauen im Zelt sei sie gepriesen!
25 Milch gab sie, als er Wasser forderte, Sahne reichte sie dar in einer herrlichen Schale.

Jaël wird gepriesen – und zwar in hohen Tönen. Noch wissen wir nicht genau, warum. Soweit wir erkennen können, war sie eine hervorragende Gastgeberin, was durchaus lobenswert ist.
Sisera bat um Wasser – aber sie gab ihm dicke Milch, die den Magen füllt und müde macht – so dass er einschlief…
Und dann entdecken wir, warum Debora diese Jaël als hoch gepriesen feiert:

26 Sie griff mit ihrer Hand den Pflock und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer und schlug Sisera, zerschlug sein Haupt, zermalmte und durchbohrte seine Schläfe.
27 Zwischen ihren Füßen brach er zusammen, fiel nieder, lag da. Zwischen ihren Füßen brach er zusammen; wo er zusammenbrach, lag er erschlagen da.

Hört euch diese kräftigen Verben an, mit denen Jaël im Gegensatz zum mächtigen Sisera beschrieben wird:Sie griff und schlug, zerschlug, zermalmte und durchbohrte Sisera. Er hingegen: brach zusammen, fiel nieder, lag da, brach zusammen, lag erschlagen da.
Wir können uns sicher sein, dass dieses Lied noch so manches Mal in den späteren Generationen in Israel gesungen wurde.
Da wurde von einer starken Frau gesungen, die griff und schlug, zerschlug und zermalmte. Da wurde von einem „O, so mächtigen Tyrannen“ gesungen, der brach zusammen, fiel nieder, lag da – erschlagen da… Zwischen IHREN Füßen.
Ja – ich kann mir vorstellen, das wurde zu einem richtigen Ohrwurm.

Und seien wir ehrlich: Die Geschichte hat etwas Befriedigendes. Wir fühlen mit dem Volk, das unrechtmäßig überfallen wird. Wir freuen uns, wenn diejenigen, die zu Unrecht unterdrückt wurden, einen Sieg und Befreiung erlangen. Das geht mir in den meisten Filmen so, die ich schaue. Und wenn der Tyrann dann noch durch die Hand eines vermeintlich „schwächeren“ Gegenübers (von dem Underdog) ausgeschaltet wird, dann springt auch das Herz von diesem Pazifisten hier und da mal. Ob dieser Tyrann nun Sisera oder Putin heißt. Ob gerade ein Zeltpflock durch den Kopf gehämmert werden muss, darüber kann man diskutieren…

Der zweite Blick
Spannend ist, dass Debora ihr Lied hier nicht abschließt. Ein paar Verse fehlen noch und einen davon, den ich sehr erstaunlich finde, möchte ich hier noch lesen:

28 Die Mutter Siseras spähte zum Fenster hinaus und klagte durchs Gitter: Warum zögert sein Wagen, dass er nicht kommt? Warum säumen die Hufe seiner Rosse?

In einem unerwarteten Twist lenkt Debora den Blick in eine andere Richtung. Mit einem Mal ist Sisera nicht mehr einfach der tyrannische Heerführer. Mit einen Mal ist hinter ihm eine Mutter, die auf ihren Sohn wartet. Eine leidtragende Mutter, die nun um einen Sohn trauern wird, der brutal erschlagen wurde.
Walter Brueggemann, der mich auf diesen Text aufmerksam gemacht hat, nennt dies einen „zweiten Blick“ auf den Feind. Im ersten Blick freut sich Debora, dass der Feind besiegt wurde, dass er mit seinem Unrecht nicht davongekommen ist, sondern ihm für seine brutale Invasion vergolten und auch gedemütigt wurde.
Ich würde diesen ersten Blick nicht verurteilen. Ich vermute, den braucht es sogar immer wieder.
Das finde ich das Schöne an dieser Geschichte: Sie holt mich ab! Ich kann so mitfühlen. Mit dem Unrecht! Mit der Freude, dass dieses Unrecht nicht das letzte Wort hat, sondern dass die Übeltäter die Konsequenzen ihrer Taten auch richtig zu spüren bekommen.
Aber dann ist da dieser zweite Blick – der Blick, der es irgendwie schafft, ein Spur zu legen, die uns erlaubt, eine gemeinsame Menschlichkeit zu sehen. Jeder Soldat, ob Israelit oder Kanaaniter, ob Ukrainer oder Russe, hat eine Mutter, die um ihn bangt.
Ich glaube, es ist eine Aufgabe der Kirche in den Konflikten dieser Welt, ob sie nun militärisch oder zwischenmenschlich sind (in unserer Nachbarschaft, auf der Arbeit) diesen zweiten Blick immer wieder aufs Neue zu schärfen.

Jesu Versuchungen
In der Textlesung haben wir heute die Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste gelesen. Das Spannende an diesen Versuchungen ist, dass Jesus zwei Mal aufgefordert wird, durchaus gute und nachvollziehbare Dinge zu tun: aus Steinen Brot zu machen und den Ernährungsmangel aus der Welt zu schaffen; vom meistbesuchten Ort in Jerusalem zu springen und der Schar ein eindeutiges Zeichen seiner göttlichen Bestimmung zu liefern, sozusagen einen offensichtlichen Überzeugungsakt zu schaffen. Dann ist da letztlich die dritte Versuchung – seine Loyalität Gott gegenüber einzutauschen gegen die Möglichkeit, alle Reiche dieser Welt von den zerstörerischen Kräften zu befreien.
Jesus hatte eine Mission. Die sah ähnlich, und doch sehr anders aus. Ich kann mir vorstellen, die Versuchungen haben ihm geholfen, seine Mission zu schärfen.
Jesus Christus kam, um als Sohn Gottes in dieser Welt zu leben. Ein zentraler Teil von dem, was es hieß, Sohn Gottes zu sein, hatte mit diesem zweiten Blick zu tun, der schon bei Debora vorkam. Er hatte damit zu tun, im Gegenüber, im Nachbar und auch im Feind den Menschen zu sehen, den Gott von den Verstrickungen der Mächte und Gewalten dieser Welt erlösen möchte.
Und Jesus lädt uns ein, ihm in dieser Mission nachzufolgen. Ich denke er beruft die Kirche besonders zu diesem zweiten Blick Deboras – dem Blick, der in allem versucht, die Menschlichkeit zu erkennen.

Pavlos Erfahrungen im Krieg
Ich bin seit dem Krieg immer wieder mit meinem Freund Pavlo im Austausch. Er kommt aus einer mennonitischen Gemeinde in Moloshansk. Im April 22 ist er bei Nacht und Nebel von der russisch besetzten Region im Osten in den Westen der Ukraine geflohen. Seitdem lebt er mit einigen Geschwistern der Gemeinde ganz im Westen. Dort haben sie eine Art Begegnungszentrum und Unterkunft für Leute, die intern geflohen sind, aufgebaut.
Aber sie bleiben nicht im Westen, sondern fahren kreuz und quer durch das Land bis an die Front und bringen Hilfsgüter, Nahrung, Öfen, Kleider, alles Mögliche.
Ich habe ihm etliche Fragen gestellt. Erstens: „Was ist deiner Meinung nach Gutes und Hoffnungsvolles im vergangenen Jahr entstanden?“
Er erzählte von den vielen beindruckenden Menschen, die sie im vergangenen Jahr an den unterschiedlichsten Orten der Ukraine kennengelernt haben; Menschen, die mit Hingabe Notbedürftigen dienten. Er erzählte von den vielen Möglichkeiten, die sie hatten, Gutes zu tun und die Botschaft von der Liebe Gottes weiterzugeben. Durch den Krieg hat er so viele Ecken der Ukraine kennengelernt, wovon er vorher nur einen Bruchteil kannte. Er erzählte von einer Hoffnung, die ihm von Gott geschenkt wurde, die unerklärlich ist, aber dennoch da war. Er hatte immer wieder gesehen, wie Gott aus trostlosen Situationen Gutes entstehen ließ.
Man muss es aber nicht romantisieren. Als ich vor ein paar Wochen nachfragte, wie es ihm gehe, sagte er: „Ich bin ausgelaugt! Erschöpft! Und dabei bin ich nicht mal an der Front am Kämpfen.“
Mit dieser Aussage im Kopf stellte ich die nächste Frage: „Was hat dich davon abgehalten, zum Militär zu gehen und für die Freiheit der Ukraine zu kämpfen?“
Zuerst meinte er schmunzelnd: „Ich habe ein schlechtes Knie. Mit diesem Knie ist es echt schwer, vor den fliegenden Kugeln wegzulaufen. Aber zum anderen habe ich den Eindruck, dass Gott mich auffordert, nicht zu töten. Ich bin berufen, mein Leben zu geben, aber nicht ein Leben zu nehmen.“
Daraufhin erkundigte ich mich bei Pavlo, ob er manchmal die Versuchung spüre, doch in die Armee zu gehen.
„Die Versuchung ist eindeutig immer wieder da! Ich habe zwei Herzen in mir. Zum einen ist da der Christ, der nicht töten soll. Zum anderen ist da der Ukrainer, der für die Freiheit seines Landes kämpfen möchte. Immer wieder steigt das Gefühl in mir hoch, dass ich doch in die Armee sollte, um das Land zu verteidigen. Besonders schwierig ist es, wenn wir mal nicht viel zu tun haben und ich mit meinen Freunden in der Armee hin-und-her-schreibe. Dann werde ich manchmal fast verrückt hier. Aber grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass ich meinen Platz gefunden habe mit unserem Dienst. Auch wir gehen an die gefährlichen Orte. Es ist wie eine Art goldener Kompromiss. Ich diene meinem Land, ohne dass ich gegen die Gebote Jesu verstoße.“
Ihr könnt euch vorstellen, dass es ein sehr berührendes Gespräch für mich war, das ich hier noch gerne mit euch teilen wollte.
Pavlo und der Crew kann man nicht vorwerfen, dass sie, wie die Stadt Meros, dem HERRN nicht zur Hilfe gekommen sind. Ich habe den Eindruck, sie versuchen, im ganzen Chaos der Mission Gottes treu zu bleiben.
Diese Mission, zu der Jesus uns ruft, hat zwischendurch fast etwas Unmögliches an sich. Die Mission, die Menschlichkeit auch im Feind immer wieder besonders im zweiten Blick zu suchen, ist oft durch reine menschliche Willenskraft nicht erreichbar.
Deshalb leben wir diese Mission nur aus der Geisteskraft heraus, die uns dazu geschenkt wird. Denn der Geist, welcher in und an Jesu Christi wirkte, ist der gleiche Geist, der uns gegeben wird und zu dem wir uns ausstrecken dürfen.
Also lasst uns das tun, immer wieder neu.

Riki Neufeld
Muttenz

aus: DIE BRÜCKE 6/2024