„Mache mich einfältig, / innig, abgeschieden, / sanft und still in deinem Frieden; / mach mich reines Herzens, / dass ich deine Klarheit / schauen mag in Geist und Wahrheit; / lass mein Herz / überwärts / wie ein Adler schweben / und in dir nur leben.“
Das Lied eines „Stillen im Lande“. Lied Nr. 1 im Mennonitischen Gesangbuch. Oftmals singen wir es am Anfang eines Gottesdienstes. Autor ist Gerhard Tersteegen, von dem sich noch zwei weitere Lieder in unserem Gesangbuch finden lassen. Tersteegen – das Paradebeispiel für einen „Stillen im Lande“. Im 18. Jahrhundert versammelte der auch als „Mystiker aus Mülheim an der Ruhr“ bezeichnete Seidenbandweber einen Kreis von Gleichgesinnten um sich, der sich weniger durch eine organisatorische Struktur auszeichnete als durch die Verbundenheit untereinander in einer tiefen Frömmigkeit und Jesusliebe.
Szenenwechsel. „Wir wollen unseren Gott in der Stille loben, ehren und preisen“. „Wir wollen ein stilles Leben in Gottseligkeit führen“. Zwei Äußerungen von ostpreußischen Mennoniten aus dem frühen 18. Jahrhundert. Auch im Bekenntnis von Dordrecht, das niederländische Taufgesinnte 1632 verabschiedeten, heißt es, Ziel sei ein „stilles, ruhiges Leben“ in „aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit“ unter dem „Schutz und Schirm“ der Obrigkeiten. Und der Ibersheimer Pastor Emil Händiges hielt 1921 in seiner Ausführung über die „Lehre der Mennoniten“ fest, ein „stilles Leben“ sei ein „Grundmerkmal echten Mennonitentums“.
Ein stilles Leben – danach strebten offenbar einige im 18. Jahrhundert … und irgendwann fand man für sie das Label „Die Stillen im Lande“. Liest man die verschiedenen Äußerungen jedoch genau, so stellt man fest, dass es qualitative Unterschiede im „stillen Leben“ gab. Während Tersteegen stark auf eine kontemplative Frömmigkeit und auf die durch die Mystik geprägte Jesuserfahrung abzielte, war das ruhige Leben der Täufer zunächst einmal davon geprägt, dass man nach einer harten Verfolgungssituation ein Plätzchen zum Leben fand und dort toleriert wurde. Um diese Tolerierung nicht zu gefährden, verlegte man sich auf ein zurückgezogenes, unauffälliges sowie lautloses und für die Öffentlichkeit nicht sichtbares Leben. Freiheit wird quasi mit dem Rückzug und der Stille erkauft.
Die „Stillen im Lande“ – ein schillernder Begriff, der als Selbst- oder Fremdbezeichnung auf verschiedene Einzelgemeinden und Frömmigkeitsbewegungen angewandt wurde. Traditionellerweise sind damit pietistische Gruppierungen gemeint, zu denen eben auch Gerhard Tersteegen mit seinem Kreis zu zählen ist. Doch dann findet sich die Bezeichnung ebenfalls bei täuferischen Gemeinschaften. Begeben wir uns deshalb noch ein wenig tiefer hinein in die Spuren der „Stillen im Lande“.
Schon im 17. Jahrhundert findet sich die Bezeichnung immer wieder in Schriften der Frühaufklärer und Spriritualisten. Die „Stillen im Lande“ sind jene, die friedlich ihren Glauben leben wollen, jedoch wegen ihrer Gedanken der Erneuerung und ihres Nonkonformismus sofort mit dem Vorwurf der gesellschaftlichen Ruhestörung belegt wurden. Explizit wird dabei oft auf Psalm 35, 20, Bezug genommen, der in der Luther-Bibel wie folgt übersetzt wird: „Denn sie reden nicht, was dem Frieden dient, und ersinnen falsche Anklagen wider die Stillen im Lande.“ Der Psalm enthält schon alle Elemente der Verleumdung, die später im Zusammenhang mit den „Stillen im Lande“ präsent sind.
Es dürfte kein Zufall sein, dass sich auch Mennoniten irgendwann „Stille im Lande“ nannten oder so genannt wurden. Denn es gab vielfältige Beziehungen zwischen pietistischen Gemeinden und Mennoniten; möglicherweise ist der Terminus da übernommen worden. Allerdings hat „Stille im Lande“ im mennonitischen Kontext immer eine doppelte Bedeutung – einerseits das erzwungene Zurückgezogensein durch die Tolerierung, andererseits die Vertiefung in die pietistisch-mystische Frömmigkeit.
Vielfältige Verbindungen bestanden etwa zwischen Gerhard Tersteegen und Mitgliedern der Krefelder Mennonitengemeinde. 1738 etwa bat Arnold Goyen Tersteegen um ein paar Erläuterungen zum „inwendigen Gebet“. Tersteegen anwortete und schrieb nach Krefeld, das „inwendige Gebet“ sei ein „Hinzunahen der Seelen zu Gott in dem Namen Jesu, und ein Bleiben vor seinem Angesicht“. Und auch Mennoniten vom Weierhof unterhielten Beziehungen nach Mülheim. Adam Krehbiel beispielsweise beschäftigte sich ebenfalls mit der „stillen“ Art des Glaubens und bemerkte in einem Brief an Tersteegen, ihm sei klar geworden, dass alle äußerlichen „Beschäftigungen“ sinnlos seien und sich als unzureichend für das wahre Glaubensleben erwiesen. Er bezog sich auf eine Stelle in Tersteegens Werk „Weg der Wahrheit“ (1750), wo dieser die Auffassung vertrat, „Lesen, Betrachten, Hören, Reden, mündliches Beten und dergleichen“ würden den Verstand „allmälig unvermögen, träge und ungeneigt“ machen. Deshalb sollte der Mensch vor allem danach streben, in einer „inwenigen Stille oder Leidenschaft“ die „Seelenkräfte“ zu spüren – Mystik par excellence. Adam Krehbiel zitierte in seinem Brief noch einen Satz von Tersteegen, dass durch die Konzentration auf die Innerlichkeit des Glaubens „alles vernünftige, schwülstige, äußere Scheinwesen des Christenthums“ von selbst falle.
Zu einem weiteren Vertreter des Pietismus, der die „Stille“ im Namen trägt, hatten Pfälzer Mennoniten Kontakt: Johann Heinrich Jung, der sich selbst den Namen „Stilling“ gab – auch wenn keine Hinweise darauf zu finden sind, dass er sich mit dieser Selbstbenennung auf Psalm 35, 20 und die „Stillen im Lande“ bezog. Jung-Stilling, der Professor für Kameralwirtschaft war, bewunderte die Fähigkeit der Mennoniten, aus öden Böden beste landwirtschaftliche Erträge zu erwirtschaften.
Soweit zu den wechselseitigen Beziehungen. Für die Mennoniten des 18. Jahrhunderts bedeutete der Kontakt zu Vertretern des Pietismus Erneuerung, denn viele neue Impulse kamen so in die mennonitische Welt. Bildung, als ein ganz wesentlicher Gedanke des Pietismus, war nur einer davon. Auch für die um 1800 neu gegründeten Missions- und Bibelgesellschaften zeigten Mennoniten Offenheit. Und der bereits zum Ausdruck gebrachte, auf die mystische Erfahrung und die Innerlichkeit zielende Glaube, der die Jesusbeziehung in den Mittelpunkt stellte, fand unter Mennoniten und Mennonitinnen ebenfalls seine Anhänger.
Aus der Feder Gerhard Tersteegen stammt nicht nur das eingangs zitierte Lied im Mennonitischen Gesangbuch, sondern er gibt in seinen verschiedenen Schriften noch so manch guten Rat für das Gemeindeleben. So finden sich in einem Ratschlag für eine Gemeinschaft um den Schmuckhandwerker Rütger Otterbeck in Velbert folgende Worte: „Noch eins! Bätet viel und redet wenig. O das heilige, sanfte, freundliche Stillschweigen, welches Gott und alle Heiligen so sehr geliebet, da lasset euch sonderlich anbefohlen seyn! Der Schwätz-Geist ist eine Zerstörung aller christlichen Zusammen-Wohungen, eine Auslöschung der Andacht, eine Verwirrung der Gemüther, eine Verschwendung der Zeit, eine Verläugnung der göttlichen Gegenwart. Die Liebe, der Gehorsam und die Nothwendigkeit müssen euch den Mund öffnen, sonst schweiget immerdarf. Selbst im Geistlichen erbauet einander mehr mit einem heiligen Wandel als mit vielen Worten. Gott wohnet nur in stillen Seelen, da muß auch die Zunge stille werden. Sehet die Früchte des heiligen Stillschweigens: Es gibt euch Zeit, Kraft, Sammlung, Gebät, Freyheit, Weisheit, Gottes Beywohnung und einen seligen Frieden.“ (Tersteegen, Ich bete an die Macht der Liebe, 38). Vielleicht reden wir heutzutage manchmal zu viel und beten zu wenig?
Astrid von Schlachta, Weierhof
aus: Die Brücke 6/2023