„Es ist nahe der Menschensohn …“

Von der Ukraine nach Turkestan – Die Endzeiterwartungen des Claas Epp

„Es sind gegenwärtig die Menschen, sie mögen einer Geistesrichtung angehören, welcher sie wollen, mit bangen Erwartungen dessen erfüllt, was die nächste Zukunft uns bringen werde. […] Mögen die irdischen Verhältnisse in gegenwärtiger Zeit sich immer drückender und mühevoller gestalten, so fassen wir doch unsre Seelen in Geduld und rufen sowohl einander, als uns selbst mit zweifelloser Gewißheit zu: ‚Es ist nahe, der Menschensohn, bereit, zum andern Male zu erscheinen denen, die auf ihn warten, zur Seligkeit!‘“ Worte aus der Feder des Ältesten der Mennonitengemeinde Köppenthal bei Saratow, David Hamm. Sie leiten das Vorwort zu einem Buch ein, das unter den südrussischen Mennoniten im späten 19. Jahrhundert für einige Unruhe sorgte, nämlich „Die entsiegelte Weissagung des Propheten Daniel und die Deutung der Offenbarung Jesu Christi“.

Der Autor dieses 1877 erschienenen Buches war Claas Epp, 1838 in Fürstenwerder bei Danzig geboren und 1853 mit seiner Familie in die neue mennonitische Siedlung „Am Trakt“, an der Wolga, eingewandert. Unter dem Eindruck der sich rasch vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen in seiner Zeit und vor dem Hintergrund des wachsenden Drucks auf die südrussischen Mennoniten wurde es für Claas Epp immer mehr zur Gewissheit, dass das Ende der Zeit nicht weit sein könnte. Er warf deshalb einen Blick zurück in die Geschichte, ordnete die einzelnen Epochen und Ereignisse den Prophetien in den Büchern Daniel und Offenbarung zu und kam zu dem Fazit: Der entscheidende Wendepunkt war das Jahr 1789: „Das Emporsteigen des Thieres aus dem Völkermeer geschah durch die Revolution in Frankreich im Jahr 1789.“ Es habe „die bisherige Regierung gestürzt, den König gemordet und sich zu unumschränkter Macht emporgeschwungen“.

Wie generell üblich, brachte Claas Epp das in Offb 13 angekündigte Tier, das aus dem Meer emporsteigt, mit dem Antichristen in Verbindung. Und für Epp, der sich als politisch äußerst reaktionär erwies, war ganz klar: Der Antichrist ist das „Volk“, denn dieses war es, das nach 1789 die „alte“, monarchische Ordnung umkrempeln, das mitbestimmen und wählen wollte. Eindeutige Zeichen der Endzeit! Als einen der Köpfe und als Führer des Tieres identifizierte Epp den Feldherrn und späteren französischen Kaiser Napoleon Bonaparte. Dieser habe geholfen, „den in Frankreich herrschenden Geist der ungöttlichen Freiheit überall“ auszubreiten. Dass das Volk im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer intensiver nach Macht strebte, war für Claas Epp nur eine Bestätigung seines Denkens. Den 8. März 1889 errechnete er als Tag der Wiederkunft.

Die Deutung von Geschichte und Gegenwart, die Claas Epp seinem Publikum präsentierte, ging auf Ideen zurück, die bereits in den Veröffentlichungen eines Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) oder Samuel Gottfried Christoph Cloeter (1823-1894) enthalten waren. Jung-Stillings Buch „Heimweh“, ein endzeitlich orientierter Roman, der viel Kritik enthielt am aktuellen Zustand der Gesellschaft und an den Entwicklungen in der Kirche generell, war ein Bestseller unter den Mennoniten.

Wichtig war für die Gläubigen nicht nur, die Zeichen der Zeit zu erkennen und vielleicht sogar ein Datum für das Ende zu kennen, sondern auch zu wissen, wo der Ort war, der den wahrhaft Gläubigen Schutz und Ruhe in den Versuchungen und Kämpfen der letzten Tage bieten würde. Schon bei Jung-Stilling und Cloeter hatte diesbezüglich Russland das Rennen gemacht, und auch der Blick von Claas Epp ging Richtung Osten. Russland, so seine Argumentation, sei das einzige europäische Land, das nicht zu den „Feinden der Gläubigen“ gehöre; hier breite sich das Wort Gottes immer noch aus. Und deshalb könne der Schutzraum für Gläubige nur Russland sein. Allerdings nicht im „gesetzlich organisierten Rußland“, sondern im zentralasiatischen Teil des Landes, in Turkestan. Dort herrschte noch mehr Freiheit, da diese Gebiete erst kurz vorher zu Russland gekommen waren und die Regierung in St. Petersburg Interessse daran hatte, sie zu besiedeln.

Die in Turkestan herrschende Freiheit zog allerdings nicht nur Epp-Jünger und -Jüngerinnen an, sondern lockte auch Mennoniten, die dem Ersatzdienst, der in Südrussland ab 1875 verpflichtend wurde, entgehen wollten. So war von den ab Juli 1880 in mehreren Schüben aus der Kolonie „Am Trakt“ und aus der Molotschna einwandernden Mennoniten nur ein kleiner Teil in einer konkreten Endzeiterwartung. Der größte Teil der insgesamt ungefähr 600 Migranten erwartete einfach bessere Bedingungen in der Wehrpflicht-Frage.

Die Ansiedlung in Turkestan bedeutete für die Mennoniten, sich in einer neuen kulturellen Umgebung zurechtfinden zu müssen. Offenkundig glückte dies recht gut. So stand den Mennoniten in Syrabulak, in der Nähe von Bukhara, die Moschee Kyk Ota zur Verfügung, um Gottesdienste abzuhalten sowie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen zu feiern. Auf dem zur Moschee gehörenden Friedhof finden sich zahlreiche mennonitische Gräber. Bis heute sind die Mennoniten Teil der usbekischen Erinnerungskultur – bekannt als Modernisierer, gute Handwerker, Advokaten der Gewaltfreiheit … und als gute Nachbarn. Mittlerweile gibt es in Khiva ein Museum, das sich auch der mennonitischen Geschichte der Region widmet. Und ein Gedenkstein erinnert an die guten mennonitisch-muslimischen Beziehungen. Das 2022 erschienene Buch „The White Mosque“ von Sofia Samatar zeichnet die Geschichte der mennonitischen Siedlungen in Turkestan eindrücklich nach.

Und was passierte mit Claas Epp und seinen Leuten, als Jesus Christus im März 1889 nicht wiederkam? Zunächst einmal verschob Epp die Wiederkunft um ein paar Jahre; zudem erklärte er sich zum zweiten endzeitlichen Zeugen, neben Elias, und als Vollender der Leiden Jesu Christi. Doch alle rhetorischen Kniffe nutzten nichts. Das endzeitliche Gedankengebäude bröckelte; es kam zu Auseinandersetzungen und Spaltungen. Wie schon 1533 in Straßburg und 1534 in Münster wurde klar, dass sich Jesus Christus nicht auf menschliche Berechnungen festlegen ließ. „Der Menschensohn ist nahe“, aber: „Ihr wisst weder den Tag noch die Stunde im Voraus“ – „Seid also wachsam!“ (Mt 25, 13)

Astrid von Schlachta, Weierhof
aus: Die Brücke 2/2024