Was kommt nach dem Tod?

Frieder Boller macht sich auf eine biblische Spurensuche

„Wo ist der Papa jetzt?“ fragte meine damals 5-jährige Schwester, als unser Vater gestorben war. „Was kommt nach dem Tod?“ fragen auch Erwachsene. „Nix!“ glauben 55% der Deutschen. Und etwa die Hälfte der Christen hierzulande ist unsicher oder ungläubig in Sachen Leben nach dem Tod. Aber Fragen gibt es auch unter den anderen – und Bibelstellen bleiben offen für unterschiedliche Interpretationen. Stirbt der Mensch ganz? Oder lebt etwas von ihm fort? Die einen meinen: „Es gibt irgendetwas im Menschen, das unsterblich ist – das den Tod überlebt. Die sogenannte unsterbliche Seele.“ Andere sagen: „Alles stirbt: Leib, Seele, Geist. Der Menschen ist ganz und gar tot. Aber in der Auferweckung erschafft Gott den Menschen neu.“

Griechisch oder Hebräisch

Die Vorstellung einer sozusagen dreigeteilten menschlichen Natur in Form von Leib, Seele und Geist kommt maßgeblich aus der antiken griechischen Philosophie in plantonischer und aristotelischer Version. Diese Sichtweise beeinflusste die christliche (Auslegungs-) Tradition stark und führte u.a. nicht nur zur Abwertung des Irdisch-Körperlichen, sondern auch zu einem vergeistlichten Auferstehungsverständnis. Demnach (er-)löst sich die (göttliche) Seele aus der vermaledeiten Materie – sprich: dem Jammertal der Welt – und schwingt sich in den himmlischen Himmel. Demgegenüber haben von der hebräischen Kultur geprägte Menschen eine ganzheitliche Vorstellung: Der Mensch hat keine Seele, er ist Seele. In der Bibel von der Seele zu lesen, bedeutet immer: Hier ist der ganze Mensch gemeint, die ganze Person, Persönlichkeit. Damit ist dem hebräischen Denken eine Seele, die im Sterben dem Körper entschwindet – und „zum Himmel entschwebt“ – fremd. Doch das AT spricht in unterschiedlichen Denkweisen von der Erwartung, dass das Leben auch an der Grenze des Todes nicht aufhört, sondern weitergeht im ewigen Leben Gottes, dem sich alles Leben verdankt. Paulus veranschaulicht das dann mit „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib“ (1 Kor 15).

Wo sind die Verstorbenen?

Die Kinderfrage „Wo ist der Papa jetzt?“ beantwortete unsere Mutter mit „Im Himmel. Bei Gott.“ Damals genügte diese Antwort. Aber irgendwann fragt man sich auch: Was heißt das denn: „Im Himmel“, oder „Bei Gott.“? Wo sind und bleiben die Verstorbenen – außer in der Erinnerung? Ich mache mich auf eine kleine Spurensuche in der Bibel.
Im Schlusschor von J. S. Bachs Johannespassion heißt es: „Ach Herr, lass dein lieb‘ Engelein Am letzen End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen. Der Leib in seim Schlafkämmerlein gar sanft ohn alle Qual und Pein Ruhn bis am Jüngsten Tage.“ In Abrahams Schoß! Dieses Bild stammt aus der Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,22). Sie ist geprägt von jüdischen Vorstellungen zur Zeit Jesu über das Leben nach dem Tod. Den gestorbenen Lazarus tragen die Engel in Abrahams Schoß. Wie ein Kind auf dem Schoß der Mutter oder des Vaters heißt, gut aufgehoben zu sein, geschützt und geborgen zu sein. Bei Abraham, dem Stammvater des Glaubens, so geborgen sein, war damals gleichbedeutend mit „in Gottes Nähe sein“.
Im Weiterblättern merke ich: So ganz eindeutig sind die Vorstellungen in der Bibel aber auch nicht. Beispielsweise scheint die Auferweckung gleich nach dem Tod stattzufinden: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“, sagt Jesus zu dem einen Verbrecher, der mit ihm gekreuzigt wird. Hier und da ist die Rede von denen, die „in Christus entschlafen“ sind. Sie schlafen, sie ruhen bis zur Auferstehung „im Schlafkämmerlein“. Das weckt die Vorstellung eines „Zwischenzustandes“. Zu lesen ist auch, die Auferstehung der Toten werde am sogenannten Jüngsten Gericht in der Wiederkunft Jesu stattfinden. Die katholische Kirche hat in diesem Zusammenhang die Theorie und Lehre vom Fegefeuer entwickelt. Ein Zwischenzustand, der den sündigen Menschen reinigen soll.
Eine andere Vorstellung lebt in der Herrnhuter Brüdergemeine. Ihr komplett in Weiß gehaltener Kirchensaal versinnbildlicht den endzeitlichen Hochzeitssaal, von dem Jesus einmal spricht und zu dessen Festtafel alle eingeladen sind. Die Verstorbenen werden nun nicht aus dem Kreis der Lebenden ausgeschieden. Sie sind nur aus dem Tun des Willens Gottes hier auf der Erde entlassen in den sogenannten höheren Chor, architektonisch symbolisiert durch die Empore des Kirchensaals. Die Verstorbenen sind nur näher an der Erfüllung der Hoffnung, in der Ewigkeit die unverbrüchliche Gemeinschaft mit Jesus, dem Herrn, zu erfahren und zu feiern. Gemeinsam ist den hier auf der Erde Lebenden und den Verstorbenen „im höheren Chor“: Alle stimmen ein in das Lob Gottes und leben auf ihre Art im Zustand des Wartens auf den „Tag des Herrn“.
Viele argumentieren rationaler: Was soll das mit dem Zwischenzustand? Hier geht es um Dinge, für die unser menschlicher Verstand nicht reicht: Jenseits des Todes gibt es keine Zeit mehr. Gott und Gottes Ewigkeit sind im besten Sinn zeitlos. Zeit ist nur eine irdische Dimension. Deshalb gibt es auch für die Verstorbenen keinen Zeitraum zwischen Tod und Auferstehung. Der persönliche Tod und die allgemeine Auferstehung fallen in eins zusammen.

Begrenzter Verstand

Was fange ich jetzt mit all dem an? Offenbar haben wir mehr Theorien als Wissen und Verstand. Das zeigt sich auch an einer Debatte zwischen Jesus und ein paar Sadduzäern, die ihn mit einer bizarren Story herausfordern: Wem gehört die Frau in der Auferstehung, wenn sie gemäß der mosaischen Weisung (5 Mose 25,5-6) nach dem Tod ihres Mannes mit seinem Bruder verheiratet war – und das nacheinander mit allen sieben Brüdern? (Mt 22,23-33) Zum Hintergrund dieser abstrusen Geschichte gehört: Sadduzäer waren liberale Realpolitiker, die sich mit den Römern arrangiert hatten. Konservativ waren sie insofern, dass sie als Glaubenslehre nur akzeptierten, was in den fünf Büchern Mose steht. Und dort steht nichts zur Frage der Auferstehung und dem Leben nach dem Tod. Also blieb ihr Blick ausgerichtet auf dieses eine irdische Leben vor Gott. Alles andere kann man sich schenken. Gut möglich, dass sie mit ihrer übertriebenen Geschichte die Sache mit der Auferstehung lächerlich machen wollten. Im damaligen Volksglauben gab es nämlich Tendenzen, sich das Leben nach der Auferstehung allzu menschlich, blumig und phantasievoll auszumalen als eine Art himmlisches Schlaraffenland. So war es eine höhnische Spitze gegen die frommen und auferstehungsgläubigen Pharisäer und gleichzeitig eine Loyalitätsfrage an Jesus: Hältst du es mit denen oder mit uns? Aber der lässt sich auf ihr scheinheiliges Getue nicht ein: „Ihr irrt, weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes. In der Auferstehung werden die Menschen sein wie Engel im Himmel.“ Anders gesagt: Eure Frage ist keine Frage und eure Vorstellung ist zu menschlich vordergründig. Sie ist Gott und dem neuen Leben bei Gott nicht angemessen. So wie sich Engel von Menschen unterscheiden, so unterscheiden sich das jetzige und das künftige Leben. Es ist eine andere, neue Dimension, von der wir Menschen uns keinen Begriff machen können.

Unverwechselbar sein in einer unbekannten Dimension

Reicht das als Antwort auf die Frage, was nach dem Tod kommt? Den einen ja. Anderen nicht. Auch in der Bibel geht es weiter. Auf die Frage „Wie soll denn das zugehen, wenn die Toten auferstehen? Was für einen Körper werden sie dann haben?“ antwortet Paulus mit dem bildhaften Vergleich vom in die Erde gelegten Samenkorn, das stirbt, um als Pflanze zu wachsen und schlussfolgert im Blick auf den Menschen: „Was in die Erde gelegt wird, ist vergänglich; aber was zum neuen Leben erweckt wird, ist unvergänglich“ (1Kor 15,35-53). An dieser Stelle halte ich fest: Auch in der Bibel finden wir nur menschlich begrenzte bildhafte Antwortversuche. Doch alles, was sie sagen wollen, ist: „Ja, wir werden als unverwechselbare Menschen in der Ewigkeit leben. Der neue Leib wird eine individuelle Gestalt haben, aber es wird ein von Gott verwandelter Auferstehungskörper sein.“ (vgl. 2Kor 5,1-4).
Werde ich also meinen Vater, der starb als ich 14 Jahre alt war, im Himmel wiedersehen? In diesem Sinn fragen viele, die einen lieben Menschen verloren haben. Das mit dem Wiedersehen bleibt unscharf. Ich weiß nicht, ob ich meinem Vater wieder begegne und ihn erkenne. Jesus höre ich sagen: „Ihr irrt, weil ihr die Kraft Gottes und die ganz andere Dimension des Lebens nicht kennt.“. Von Jesu Antwort her schlussfolgere ich: Falls wir einander erkennen, werden unsere irdischen Bedürfnisse nach Gemeinschaft, unsere irdischen familiären Verhältnisse und Beziehungen – die guten wie die schlechten – dort keine Rolle mehr spielen. Sie werden unbedeutend geworden sein. Bedeutend hingegen wird aber sein: Für die verwandelten Menschen steht die versöhnte Gemeinschaft mit Gott im Vordergrund. Was dann sein und nicht mehr sein wird beschreibt die Offenbarung einmal so: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21,4-5). Das ist es, was wir erwarten können mit dem Tod!

Unverhüllt vor Gott stehen

Soweit meine Spurensuche. Nur ein Gedanke noch. Denn wer sich in der Bibel umschaut, wird im Zusammenhang mit dem Tod unweigerlich auch noch auf Aussagen zum Gericht stoßen. Allerdings sind die verschiedenen biblischen Gerichtsvorstellungen ein eigenes großes Thema. An dieser Stelle nur so viel: Wenn Gott Gericht hält, will er es uns nicht heimzahlen, sondern uns heimholen. Fulbert Steffensky sagt dazu: „Wir haben als Menschen ein Recht auf das Jüngste Gericht. Wir haben ein Recht darauf, einmal unverhüllt vor dem Antlitz Gottes zu stehen, wo und wie auch immer – das weiß nur Gott. Es ist eine Gnade, zu erkennen, wer wir sind und was wir waren. Wie alles andere, ist es ein Geschenk Gottes, dass wir uns selbst nicht verborgen sind und dass wir uns in allem Gelingen und in allen Winkelzügen durchschauen können. Es gehört zu unserer Würde, vor Gott und vor uns selbst nicht versteckt zu bleiben. … So ist das Gericht seiner Frage und seines Blicks unsere Reinigung und unser Schmerz. … Wo wir unser Ungenügen, unseren Lebensverrat und unsere Bosheit erkennen; wo wir also ungeschminkt uns selbst gegenübertreten. … Nein, es ist nicht nur Pein, wenn wir uns selber schutzlos sehen und wir gesehen werden, wie wir sind. Es kommt ja immer darauf an, vor welchen Augen wir nackt sind und gerichtet werden. Ein schlichter Vers aus dem 44. Psalm hilft mir, den richtenden Blick Gottes zu verstehen: Er kennt ja unseres Herzens Grund. … Sich in die Erkenntnis Gottes bergen, ohne Angst, vernichtet zu werden, das hieße, sich von Gott lieben lassen. Dass er „unseres Herzens Grund“ kennt, besser als wir ihn kennen, ist keine Drohung. Es ist der ganze Lebens-trost. Das Gericht Gottes als ein Akt der Liebe!“
Das merke ich mir: Im Gericht stellt Gott die Dinge und Verhältnisse richtig. Um wiederherstellende Gerechtigkeit geht es Gott. Um wiederhergestellte Beziehungen. Die Wahrheitsfindung mag schmerzlich sein, doch sie wird umschlossen von einer Neuschöpfung, die von allem Gottwidrigen (Sünde) erlöst. Dafür steht Jesus ein, der z. B. im Hebräerbrief als ewiger Priester bezeichnet wird. Das ist traditionell einer, der zwischen Gott und den Menschen die Vermittlerrolle hat. „Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten; denn er lebt allezeit, um für sie einzutreten.“ (Hebr 7,25).

Geborgen

Demzufolge halte ich am Ende meiner kleinen biblischen Spurensuche fest: Gott, der Schöpfer, schafft Neues und Undenkbares, weil das so seine Art ist. Vom Anfang der Welt und immer und immer wieder – in jedem Leben vor dem Tod und nach dem Tod. Neue Schöpfung ist angesagt – Erweckung zu einer ganz neuen und anderen Existenz und wiederhergestellten Beziehung. Das erwarte ich, weil ich Jesus glaube, der verheißen hat: „Ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden nimmermehr umkommen und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ (Joh 10,28-29) Geborgen in Gottes Hand kann ich gut leben. Hier und jetzt. Und in alle Ewigkeit!

Frieder Boller, Ingolstadt
aus: Die Brücke 2/2024

Noch ein Video-Tipp:

Nahtoderfahrungen – eine spannende und gründlich-informative Video-Reihe im Youtube-
Kanal „Glaube & Gesellschaft im Gespräch“
des Studienzentrums für Glaube & Gesellschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg, Schweiz

Foto von Madeleine Maguire auf Unsplash