2025 feiern die Täufer 500 Jahre ihres Bestehens, doch unter russlanddeutschen Mennoniten und Baptisten herrscht Zurückhaltung gegenüber dem Jubiläum – sagt Johannes Reimer
Vor allem Mennoniten in der ganzen Welt bereiten sich seit Jahren auf das Jubiläum 2025 vor. Und sogar da, wo sie in Folge von Vertreibung heute nicht mehr leben, wie im Nordkaukasus, denken die Historiker über das große Ereignis nach. Oder in Moskau. Bei meinem neuerlichen Besuch des Europa-Instituts an der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation meinte der stellvertretende Leiter des Instituts Prof. Roman Lunkin: „Das müssen wir unbedingt feiern.“ Ganz ähnlich fiel die Reaktion der belarussischen Historiker in Brest im vergangenen Oktober aus.
Nur unter den Russlanddeutschen Mennoniten und Baptisten beobachte ich eine merkwürdige Zurückhaltung. Zuweilen scheint es, als würde die 500- Jahr-Feier sie nichts angehen. Dabei liegen ihre geistlichen Wurzeln genau hier in der Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts.
Woher rührt diese Zurückhaltung? Ist es das mangelhafte historische Bewusstsein? Wissen die Leiter der zahlreichen baptomennonitischen Gemeinden und Pastoren zu wenig über ihre historischen Wurzeln, oder sind ihnen diese zuweilen gar peinlich? Schlägt sich hier das grundsätzliche Fehlen einer Heimatverbundenheit durch? So oft wie sie zu neuen Horizonten aufgebrochen sind, stets auf der Flucht aus dem Land, in dem sie als Friedenskirche weder gewollt noch toleriert wurden? Verliert man mit dem Verlust der Heimat auch die eigenen historischen Wurzeln? Und müssten nicht genau diese gepflegt werden, begründen sie doch am deutlichsten die eigene kirchliche und kulturelle Tradition?
Diese und ähnliche Fragen bewegen mich, während ich diesen Artikel schreibe. Ich gehöre bewusst zu ihnen, diesen Russlanddeutschen, von denen ich rede. Auch meine Familie musste mehrfach Haus und Hof verlassen und ums nackte Überleben kämpfen. Über die Geschichte der Väter sprach man hier kaum. Ich kann mich an keine Geschichte aus dem Munde meiner Eltern, oder auch der beiden Großmütter erinnern, die von den Täufern handelte. Dabei erzählte vor allem meine Oma Tina Reimer immer wieder Geschichten aus dem deutschen Adel. Mennoniten kamen darin nicht vor. Ja, wir stammten von den Mennoniten ab und diese von Menno Simons. Wer dieser aber war, darüber hörte ich nichts. Mennoniten das waren in meinem Empfinden Plattdeutsche. Erst Jahre später in meinem Theologiestudium, entdeckte ich die konfessionellen Wurzeln der Familie.
Mich verwundert deshalb das Verschweigen des großen Jubiläums wenig. In der älteren Generation ist wenig bis gar kein Bewusstsein dafür vorhanden. Und gerade deshalb sollte man es ansprechen.
Sind die russländischen Mennoniten Täufer?
Russlandsdeutsche Baptomennoniten sind Täufer! Ausdrücklich bekennt sich zum Beispiel der Bund Evangelischer Freikirchen zu „evangelikal-täuferischen Prinzipien“. Man hat die Frage nach ihrer Identität immer wieder gestellt. Vor allem nach der Entstehung der Mennonitischen Brüdergemeinde 1860, wollte die Frage nach der Identität nicht von der Tagesordnung. Was war sie nun die Mennonitische Brüdergemeinde mit ihren pietistischen und baptistischen Einflüssen? Immer noch täuferisch?
Der Amerikanische Historiker Walter Sawatsky legte mit seinem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „What makes the Russian Mennonites Mennonite?“ wichtige theologische und historische Kriterien fest, die an der täuferischen Identität der Russländer jeden Zweifel beseitigen.
Die Nähe zu den Baptisten erklärt sich vor allem dadurch, dass ja auch diese täuferische Wurzeln aufweisen und gerade in Russland ihre Existenz direkt den Mennoniten verdanken.
Also, die bewegte Geschichte zwischen den Mennoniten und Baptisten in Russland kann nur sehr bedingt die skizzierte Zurückhaltung erklären. Die Mennoniten haben bei all ihrer Missionsfreudigkeit, doch immer an ihrer besonderen „deutsch-täuferischen“ Tradition festgehalten. Da hatten ausgesprochen missionarisch gesinnten Personen unter ihnen immer wieder mit Schwierigkeiten und sogar Ablehnung zu rechnen. Was nicht selten zu neuen Gemeindegründungen im russlanddeutschen Mennonitentum führte. Tradition war und ist in diesen Gemeinden ein wichtiges Glaubensgut.
Aber traditionsbewussten Gemeinden feiern doch ihre Geschichte. Warum nicht hier? Was macht sie so anders, diese russlanddeutschen Täufer, dass sie ein so wichtiges Datum wie die Geburtsstunde der eigenen Bewegung wenig beachtet liegen lassen?
Auf der Flucht denkt man nicht an die Vergangenheit.
Eine mögliche Ursache ist tatsächlich die Rastlosigkeit und als Ergebnis Heimatlosigkeit der russländischen Täufer. In der alten Heimat nannte man sie manchmal Ewige-Zigeuner-Wanderer der vielen Umzüge wegen. Nichts war hier so wenig sicher wie eine geographische Heimat. Kam man an einen neuen Ort, so richtete man sich nie für immer ein.
Und kaum in Deutschland angekommen, setzten bald auch hier Umzüge nach Kanada, Paraguay, Bolivien und neuerdings nach Ungarn ein. Immer auf der Suche nach einem sicheren Ort, an dem man den eigenen Glauben recht leben und die Kinder in diesem Glauben erziehen könnte. Dass dieser Glaube täuferische Wurzeln hat, ist unbestreitbar. Aber er ist auch Ausdruck einer jahrhundertealten Geschichte von Vertreibung, Flucht und immer wieder Neuanfang.
Umzüge bringen Unruhe ins Leben. Da ist einem wenig zum Feiern. Auch dann nicht, wenn es einem bewusst ist, dass es hierfür genug Anlass gäbe. Erst letztes Jahr sagte mir einer dieser „Wanderer“ an seinem neuen Wohnort in Ungarn, wie falsch er es findet, dass wir, seine Glaubensbrüder, es uns in Deutschland so gemütlich einrichten. Ihm sei angst und bange für seine Kinder und Enkelkinder, wenn er an die allgegenwärtige Genderismus-Haltung der Gesellschaft denke. Nicht zum Feiern, zum Weinen sollten wir uns Zeit nehmen. Schließlich gehe es nicht darum auf Jubiläen wie das im nächsten Jahr stattfindende Jahresfest zu achten, sondern vorbereitet zu sein, wenn der Herr Jesus wiederkommt. Eine Haltung, die keineswegs selten unter Russlanddeutschen Täufern ist.
Im Gespräch mit meinen Landsleuten treffe ich aber auch noch auf eine zweite Ursache, die tief verwurzelte Angst, dass die starke Beschäftigung mit den Glaubensvätern und -Müttern den eigenen in der Bibel und der Bibel allein begründeten Glauben verändern könnte.
Was für eine im Traditionalismus verwurzelte Gemeinderichtung fast paradox klingt, ist aber in der Praxis allgegenwärtig. Man singt zwar laut „dieser uralte Glauben ist gut genug für mich“, aber wehe man macht sich daran diesen Glauben auf seine historische Substanz abzuklopfen.
Die Geschichte der Historischen Kommission im Bund Taufgesinnter Gemeinden (BTG) unterstreicht das Gesagte deutlich. Junge Leute wie ich es damals war, haben mit großem Elan die historische Aufarbeitung der eigenen Geschichte angepackt. Schon bald erschienen die ersten Texte und vom 14—17. März 1996 veranstalteten wir das Menno-Simons-Symposium und Festkonferenz zum 500. Jahrestag des Täuferführers in Oerlinghausen. Die überaus gelungenen Beiträge dieser Konferenz erschienen rechtzeitig im Symposiumsband.
Eine vielversprechende Biographien-Serie zu den Täuferführern auf der einen und herausragenden Persönlichkeiten der eigenen Geschichte auf der anderen Seite wurden aufgelegt und die vielfältigen Beziehungen neu bedacht und diskutiert. Ganz besonders wertvoll bei der Fülle der Veröffentlichungen ist die vielbeachtete Arbeit von Hans Kasdorf über die Missionsarbeit der Mennoniten in und aus Russland.
Leider beendete die Bundesleitung die Arbeit der Historischen Kommission schon wenige Jahre nach der Gründung mit der Begründung, dass die Veröffentlichungen Unruhe in die Gemeinden bringen würden. Manches wurde mündlich doch wesentlich anders tradiert als es die historische Forschung nun zeige. Man wolle aber eine solche Unruhe nicht, denn der uralte Glaube sei ja immer schon gut genug für uns gewesen.
Auch das Beispiel der Reaktion der Mennonitengemeinde Bielefeld auf das Angebot des Landes Nordrhein-Westfahlen vor nunmehr 30 Jahren ist an der Stelle bezeichnend. Das Land bot uns die Möglichkeit, an der Universität Bielefeld einen Menno-Simons-Lehrstuhl für täuferische Theologie einzurichten und alle finanziellen Ausgaben hierfür zu übernehmen. Es bedurfte der Zusage der örtlichen Gemeinden, wobei die Mennonitenkirche bei weitem die meisten Mitglieder hatte. Aber ausgerechnet diese Gemeinde sagte das Angebot ab mit der Begründung, dass sie ihren Glauben nicht auf Menno-Simons baue, sondern allein auf Jesus Christus und keine Huldigung einer historischen Persönlichkeit wie Menno Simons betreibe. Zu meiner tiefen Trauer blieb nun die Einrichtung des Lehrstuhls aus. Und weder die Bundes- noch eine Landesregierung hat ein solches Angebot je wieder gemacht.
In diesen und ähnlichen Geschichten manifestiert sich so etwas wie eine tiefe Skepsis jeder gelehrten Auseinandersetzung gegenüber, sowohl mit der eigenen Geschichte als auch der Glaubenstradition. Der weitverbreitete Satz „je gelehrter desto verkehrter“ reitet hier den Tag.
Jeder Neuanfang setzt Vergangenheit voraus.
Russländische Täufer haben auf den verschlungenen Wegen ihrer Geschichte immer wieder nach einer Zukunft im Frieden, tief begründet in der eigenen Tradition, gesucht. Dabei ließen sie eine erstaunliche missionarische Spur, aber auch viel Streit und Spaltung zurück. Kann es sein, dass die Ursache für das Letztere in ihrer Weigerung sich der eigenen Geschichte zu stellen und daraus effektiv zu lernen liegt?
Wilhelm von Humbold schrieb einst: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“. Dieser Satz ist tausendfach zitiert und in der Praxis diskutiert worden. Er stimmt. Wer seine Vergangenheit ausblendet, bleibt auf der Suche nach der Zukunft im Hamsterrad des Lebens stecken.
Ist das unser russlanddeutsches Schicksal? Begründet das unsere ewigen Wanderschaften durch die Welt? Man könnte meinen – ja, tut es. Zukunft setzt ehrfurchtvolle und zugleich ehrliche Auseinandersetzung und damit Kenntnis der Vergangenheit voraus. Weder Glorifizierung noch Totschweigen der Geschichte hilft weiter. Gerade im medialen Zeitalter. Das Internet verschweigt und vergisst nichts. Freilich es verbreitet auch millionenfach Lügen. Aber dagegen hilft bekanntlich nur Wahrheit. Erst wenn wir die Wahrheit erkennen, werden wir wirklich frei zum Leben, konstatiert kein geringerer als Jesus selbst (Joh. 8,32).
Es macht also viel Sinn sich den historischen Tatsachen der eigenen Geschichte zu stellen, die geistlichen Errungenschaften und Höhepunkte zu feiern und die Fehler zu benennen, um diese so nicht mehr zu wiederholen. Sonst bleibt man schnell in Escape Room des Lebens auf der Suche nach den eigenen Wurzeln stecken, um hier einmal das Angebot des Museums für Russlanddeutsche Geschichte in Detmold zu bemühen. Ich kann meinen Landsleuten und Glaubensgeschwistern nur einen Rat geben – Feiern wir mit – das wird uns gut tun.
Johannes Reimer
ist Professor für Missionswissenschaften und schrieb über Mennoniten in Russland